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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Zunächst wird Haase jetzt wieder für einige Wintermonate der Berliner Hofbühne, an der seine Gattin fest engagirt ist, seine künstlerische Thätigkeit zuwenden.

Wenn es ein berechtigter Ausspruch ist, daß dem Mimen die Nachwelt keine Kränze flicht, ein Ausspruch, der zugleich die oft fieberhafte Hast erklären mag, mit welcher die Schauspieler die Kränze der Mitwelt auf ihr Haupt zu häufen suchen, so ist es um so mehr Pflicht der zeitgenössischen Kritik, mit größter Unbefangenheit und Unparteilichkeit und so anschaulich wie möglich ein Bild der Künstler hinzustellen, da das Urtheil der Zukunft ausschließlich durch das Urtheil der Gegenwart bestimmt wird und sich keine anderen Zeugnisse eines schauspielerischen Wirkens auf spätergeborene Geschlechter forterben. Lebendig und mit frischem Dufte gelangen die Blüthen des dichterischen Talentes auf die Nachwelt, diejenigen des schauspielerischen nur im Herbarium der Presse; mit desto größerer Sorgfalt müssen sie in dasselbe eingelegt werden, damit nicht zerdrückte Blätter und Blumen nur ein unklares Bild geben von ihrer einst lebensfrischen Gestaltung.

Friedrich Haase ist kein Künstler, dessen gelungenste Schöpfungen auf Improvisation beruhen. Er gönnt den Eingebungen des Augenblicks keine Macht über sein darstellendes Talent; er baut seine Gestalten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit auf, freilich nicht in einer lockern haltlosen Zusammenreihung, sondern stets als ein mit künstlerischem Tiefblicke erfaßtes Ganze. Die Kunst der Menschendarstellung soll uns den ganzen Menschen geben; dazu gehört vor Allem, daß die äußere Erscheinung mit dem inneren Wesen sich in vollem Einklange befindet. Die Masken Haase’s sind Meisterstücke jener Portraitmalerei, welche ihr Atelier in den Garderobezimmern hat. Sein Cromwell und Alba, sein Shylock, Marinelli und Narciß, sein Thorane und Rocheferrier sind Charakterköpfe, die einem genialen Portraitmaler alle Ehre machen würden. Namentlich die historische Treue ist an diesen Haase’schen Masken bewunderungswürdig. Sein Philipp der Zweite, in welcher Rolle unser heutiges Bild den Künstler darstellt, ist ein redendes Beispiel für diese historische Treue der Haase’schen Portraitmalerei. Und mit der Maske steht bei Haase stets die ganze Haltung und körperliche Erscheinung in Harmonie. Er hat die „Symbolik der Gestalt“ studirt; seine Darstellung verleugnet nie die tieferen Beziehungen zwischen dem Seelischen und Körperlichen, auch weiß er verwandte Gestalten scharf zu sondern; welch ein Unterschied ist zwischen seinem Alba, dem Fanatiker des Despotismus, und seinem Cromwell, dem Fanatiker der biblischen Demokratie! Wer aber die Vielseitigkeit seiner Leistungen würdigen will, der vergleiche diese wie aus Erz gegossenen Gestalten mit seinen quecksilbernen Marquis und Lebemännern.

Haase ist ein moderner Darsteller. Alles Romantische liegt ihm fern; sein Talent geht auf das fein Charakteristische; lyrische Ergüsse, eine machtvolle und pomphafte Rhetorik sind ihm unbequem, auch reichen seine Mittel dazu nicht aus, so vortrefflich er auch sein Organ geschult hat, so sehr er auch mit demselben die düstere Energie eines Alba und Cromwell, und auch den leidenschaftlich aufflackernden Groll eines Shylock zur Geltung zu bringen vermag. Wenn wir durch die Portraitgalerie seiner künstlerischen Schöpfungen wandern, so verweilen wir zunächst bei den mehr genrehaften Cabinetsstücken, die mit bewundernswerther Sauberkeit und künstlerischer Vollendung ausgeführt sind. Die Aristokraten aus der Rococozeit, mit dem Parfum leichtblütiger Frivolität, gelingen ihm am besten. Sein alter „Klingsberg“ ist eine köstliche Gestalt; der Kotzebue’sche Wüstling läßt sich nicht lebenswahrer verkörpern. Ein anerkanntes Cabinetsstück, durch welches er ein kaum lebensfähiges Product, wie „Eine Partie Piquet“, zu einem auf allen Bühnen eingebürgerten Repertoirestücke gemacht hat, ist sein Marquis Rocheferrier; dieser eigensinnige hüstelnde „alte Herr“ mit dem eingeborenen Dünkel ist eine wahrhaft genial gedachte und ausgeführte Gestalt. Sein Marquis in Sandeau’s „Fräulein von Seiglière“ unterscheidet sich von dieser aristokratischen Mumie durch jugendliche Frische und einen echt chevaleresken Zug; er ist eine der liebenswürdigsten Gestalten aus dem Album Haase’scher Charaktere und wird vielleicht von dem Darsteller selbst nicht ganz nach Verdienst geschätzt.

Mit einer eigenthümlichen Nüance tritt Gutzkow’s „Königslieutenant“ in diese Gruppe; dieser schwärmerische, melancholische und doch dabei tapfere und ritterliche Thorane Friedrich Haase’s trifft den Grund- und Leitton des Charakters ausnehmend glücklich. Für alle diese und ähnliche Aufgaben kam die feine und elegante Persönlichkeit dem Künstler besonders zu Statten.

Eine andere Gruppe Haase’scher Charaktere ist diejenige, die sich durch geistige Ueberlegenheit und glänzende Ironie auszeichnet. Der Hauptvertreter dieser Gruppe ist Bolingbroke in Scribe’s „Glas Wasser“, eine Rolle, die zu den besten des Künstlers gehört, wenn sie auch von ihm nicht häufig genug dem Publicum vorgeführt wird.

Auch die feinere Seelenmalerei gehört zu Friedrich Haase’s künstlerischen Vorzügen. Ein Meisterstück hierin ist sein Harleigh in „Sie ist wahnsinnig“, auch sein Arthur von Marsau, in welcher Rolle er die Klippe verliebter Schwärmerei möglichst glücklich umschifft, gehört hierher, ebenso „Narciß“, dessen innere Gebrochenheit und Blasirtheit er trefflich zur Geltung bringt, wenn ihm auch für die Ausbrüche der Verzweiflung am Schlusse Dawison’s niederschmetternde Gewalt fehlt.

Unter den eigentlichen Intriguanten, die auf Haase’s Repertoire stehen, nimmt sein Marinelli wohl den ersten Rang ein. Es ist eine durchaus originelle Schöpfung; nicht die Glätte des Hofmanns, nicht das Lakaienhafte, obschon es durchaus nicht fehlt, tritt in den Vordergrund, sondern das Affenartige und Hämische des Charakters.

Von den historischen Charakterköpfen Haase’s erwähnten wir bereits Cromwell, Alba und Philipp den Zweiten; namentlich ist sein Cromwell eine meisterhaft ausgeführte Gestalt.

Wir sprachen oben schon von der Bewunderung, welche Friedrich Haase für die Dramen des großen britischen Dichters hegt. Nach dem Vorgang der neuen englischen Bühnendirectoren gab Haase den Kaufmann von Venedig und Richard den Dritten mit einer glänzenden theatralischen Ausstattung. Es war das offenbar ein Act der Pietät, aber unser Künstler wurde von Anhängern der keuschen Shakespeare-Observanz dafür zur Ordnung gerufen, als ob er die Muse des großen Poeten dadurch entweiht hätte. Gewiß mit Unrecht! Sobald derartige Ausstattungen den Eindruck der Stimmung erhöhen, welche das ganze dichterische Bild beherrschen soll, sind sie vollkommen berechtigt, und das war bei den meisten Decorationen und Gruppenbildern in beiden Dramen der Fall. Das lustige Maskentreiben von Venedig, die Pracht in den Sälen der reichen Erbin Portia: das alles tritt lebendig vor uns hin. In Richard dem Dritten werden die großen Haupt- und Staatsactionen und die Schlachtscenen mit entsprechendem Pomp inscenirt. Da wir nicht mehr in den Zeiten der Shakespearebühne leben, welche der Phantasie der Zuschauer alles überlassen konnte, sondern in der Zeit der Bayreuther Festvorstellungen, bei denen die Scenerie der offenen Bühne eine ebenso große Rolle spielt, wie die Musik des verdeckten Orchesters, so müssen die scenischen Andeutungen Shakespeare’s, entsprechend den Anforderungen der Gegenwart, an den großen Bühnen illustrirt werden, wenn nicht das Schauspiel, besonders das historische, zum Stiefkind unseres Theaters werden soll. Ein etwas zu prunkhafter Krönungsmantel, der als Bühnenrequisite zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist ein verschwindender Fehler gegenüber den dürftigen Ausstattungen, welche große Ensemblescenen des Geschichtsdramas in eine Bettlerkomödie verwandeln, oder der klaffenden Leere, welche uns auf manchen großen Bühnen bei Massentableaus entgegengähnt.

Haase hat sich um den Shakespeare-Cultus durch diese großartigen Ausstattungen der Shakespeare’schen Dramen ohne Frage verdient gemacht; wir können nicht in den Chorus der Tadler einstimmen. Freilich mußten, um das Gleichgewicht herzustellen, auch die Träger der dramatischen Handlung bedeutsam hervortreten. Haase’s „Shylock“ ist eine markige Leistung voll kräftiger Züge, nirgends in Uebertreibung verfallend; sein Richard der Dritte hat in der Scene mit Anna einen dämonisch berauschenden Zauber.

Möge ein so selten begabter Künstler sein Repertoire noch mit manchen Gestalten der neuen und der classischen Production, ob sie nun der ernsten oder heiteren Gattung angehören, bereichern! Nur aus der schönen Wechselwirkung dichtender und darstellender Kraft geht die Blüthe dramatischer Kunst hervor.

Rudolf Gottschall.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_665.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)