Seite:Die Gartenlaube (1876) 664.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Gewiß ist er das, und jeder echte Künstler soll es sein; das heißt, er soll die Technik seines Handwerks mit unerschütterlicher Sicherheit bis in ihre kleinsten und feinsten Züge hinein beherrschen. „Doch er soll sich nicht vordrängen im Ensemble; das Ensemble ist die Hauptsache“, so rufen die Anhänger des ehrwürdigen und hochverdienten Dramaturgen in Karlsruhe. Ein Ensemble vorzüglicher Künstler und Meister ist jedenfalls das Ideal der Kunst, aber wie soll es ein hervorragender Künstler machen, wenn er in das noch so gut geschulte Ensemble mittelmäßiger Kräfte eingereiht wird? Soll er zur Mittelmäßigkeit herabsinken, um sich nicht vorzudrängen? In der Armee giebt es höchstens Flügelmänner, in der Kunst aber giebt es Genies, Talente des verschiedensten Grades; jeder mag an seinem Posten stehen und ihn pflichtgemäß ausfüllen. Bis jetzt ist aber noch kein Mittel dagegen gefunden worden, daß das größere Talent sich vor dem geringeren auszeichnet und daß das Genie ganz besondere Lichtblitze von Offenbarung hat, während die Durchschnittsmenge der Darsteller für ihre Blitze nur das übliche Theaterkolophonium verwendet. Ein größeres Talent wird stets ein mittelmäßiges Ensemble durchbrechen. So wenig Goethe und Schiller mit lyrischen Albumblüthlern in Reih und Glied gestellt werden können, ohne sie zu überragen, wie die olympischen Götter die Pygmäen: so wenig können wahrhaft bedeutende Darsteller mit redlich strebenden Mittelmäßigkeiten in Reih und Glied stehen, ohne einen unharmonischen und unproportionirten Eindruck zu machen.

„Doch das beständige Gastiren,“ sagen die Gegner, „daran erkennt man eben die Virtuosen.“

Gewiß, das Gastspielwesen in seiner Uebertreibung ist bedenklich für das Gedeihen des Theaters. Die Repertoires werden gestört und unterbrochen, und die gastirenden Künstler selbst kommen nicht zu der Ruhe, neue Schöpfungen zu gestalten, aber man muß das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ein bedeutender Darsteller gehört der Nation an; jeder Einzelne hat den Wunsch und das Recht, ihn kennen zu lernen. Gastreisen, wie sie jetzt durch die neuen Verkehrseinrichtungen so wesentlich erleichtert werden, dienen dazu, die Bekanntschaft der Einzelnen mit den hervorragenden Künstlern in den verschiedensten Städten zu vermitteln. Dichter und Componisten sind in der glücklichen Lage, ihre Werke an allen Bühnen zur Aufführung zu bringen, dem ganzen deutschen Publicum bekannt zu werden, ohne auch nur einen Augenblick ihren Wohnort zu verlassen. Der Schauspieler wirkt nur durch sein persönliches Auftreten; es ist dies eine Schranke seiner Kunst. Tritt er nur in einer Stadt auf, so kennt ihn auch nur das Publicum dieser Stadt. Große Künstler haben daher zu allen Zeiten „gastirt“, es liegt dies in der Natur der Sache. Nur zogen sie in früherer Zeit mit den ganzen Gesellschaften zugleich herum, während sie jetzt einzeln von Stadt zu Stadt wandern. Gastspielreisen sind daher wohl gerechtfertigt, wenn sie nicht ausarten und ausschließlich ein ganzes Künstlerleben ausfüllen.

„Doch Friedrich Haase,“ sagen die Gegner weiter, „ist vielleicht in seinem Genre groß, aber sein Genre ist klein.“

Wir meinen, Jeder ist bedeutend, der in seinem Genre groß ist, und dann reicht das Talent Haase’s weit hinaus über dasjenige, was man gewöhnlich als sein Genre bezeichnet.

So verläuft in der Regel die Debatte über Friedrich Haase zwischen Freund und Feind, unter den Kritikern von Beruf und Neigung; das große Publicum hat nie eine derartige Kritik geübt; es hat sich an den geistreichen Leistungen des Künstlers erfreut und, wenn er auftrat, stets die Häuser gefüllt. Der Name Friedrich Haase’s ist einer der größte Cassenmagnete, von denen die deutsche Theatergeschichte zu erzählen weiß.

Der Künstler ist im Jahre 1824 in Berlin geboren, wo sein Vater Kammerdiener des späteren Königs Friedrich Wilhelm des Vierten war; er ist also aus denselben Kreisen des subalternen preußischen Hofdienstes hervorgegangen, aus denen auch Karl Gutzkow stammt. Der Dichter des „Königslieutenant“ und der erfolgreiche Darsteller des Thorane sind an den Ufern der Spree geboren, und zwar, wie es in den englischen Lustspielen heißt, below stairs, unter den Treppen, die zu den Hofsalons führen. Früh zeigte der Knabe schon Neigung für das Theater, und eine dramaturgische Autorität wie Ludwig Tieck wurde sein Lehrmeister. Tieck war vielfach bestimmend für die Entwickelung des talentvollen Schillers. Der Romantiker war ein fein ironischer Kopf, und auch sein Jünger sollte später ein Meister feiner Ironie werden. Tieck war für Shakespeare begeistert. Er lebte und webte in ihm; er sah das Leben, die Welt, die Kunst mit Shakespeare’s Augen; er war jeder Zoll ein Epigone des großen Briten. Diese Begeisterung für Shakespeare vererbte er auf seinen jungen Schüler. Sowohl als Darsteller wie als Schauspieldirector hat Haase den Shakespeare-Cultus mit Enthusiasmus, ja selbst mit pecuniären Opfern gepflegt.

Außer von Tieck, der ihn in die ästhetischen Feinheiten einführte, und zwar auf Befehl des Kronprinzen, der sein Pathe war, wurde Haase auch von mehreren anderen Lehrern in der Schauspielkunst und ihren Vorwissenschaften unterrichtet und betrat dann zuerst in Weimar die Bühne. Sein erstes Gastspiel in Berlin hatte Erfolg; man machte ihm einen Engagementsantrag, doch er lehnte ihn ab, weil er befürchtete, neben Döring und Dessoir eine zu untergeordnete Rolle zu spielen. An dem Theater zu Prag, wo er 1850–1852 engagirt war, hatte er zuerst durchgreifende Erfolge. Ein Geheimniß seines später so glänzenden Bühnenglücks beruht auf Haase’s genauer Selbstkenntniß, auf dem richtigen Instinct für dasjenige, was seiner Persönlichkeit, seinen Mitteln zusagt. Es gab und giebt bedeutende Künstler, denen dieser Instinct fehlt, die wie der Weber Zettel im „Sommernachtstraume“ Pyramus, Thisbe und den Löwen zugleich spielen wollen. Erzählt man doch von dem Altmeister deutscher Schauspielkunst, Conrad Eckhof, daß er noch in hohen Jahren jugendliche Liebhaber spielte. Haase wußte sich von Hause aus zu beschränken, und in dieser Beschränkung kündigte sich der Meister an. Er gehört nicht zu den himmelstürmenden Genies, für welche die größten Aufgaben nicht groß genug sind; er weiß, daß seine Stärke nicht im hinreißenden Schwung der Begeisterung liege, der bei der Darstellung nur allzu oft die Coulissen mit fortnimmt, sondern in der feinen Charaktermalerei. Er ist kein dramatischer Frescomaler, sondern ein Aquarell- und Pastellmaler, aber gerade auf diesem mit künstlerischer Einsicht beschränkten Gebiet strebt er nach der Meisterschaft. Freilich wünschte er bei seinen Engagements auch Berücksichtigung seiner Eigenart; wo diese ausblieb oder ihm auszubleiben schien, wie in München, da duldete es ihn nicht lange, und der inneren Nöthigung seines Talentes folgend, zögerte er nicht, auch contractliche Schranken zu durchbrechen, was ihm längere Zeit hindurch aber jedes künstlerische Wirken erschwerte. Seinem Engagement in Frankfurt, das unter der Intendanz von Roderich Benedix (1855–1858) stattfand, folgte ein längeres Engagement in Petersburg, während dessen sein Name durch zahlreiche Gastspielreisen in Deutschland in der Urlaubszeit immer bekannter und gefeierter wurde. Hier in Petersburg verheirathete er sich mit der anmuthigen und begabten Schauspielerin Lina Schönhoff, nachdem seine Ehe mit der Sängerin Anschütz-Kapitain nach einjährigem Bestehen wieder gelöst worden war.

Von dem Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha zum Director der Hofbühne berufen, widmete er sich dieser ihm neuen Stellung mit Eifer und machte hier die Vorstudien für seine spätere Bühnenleitung in Leipzig. Nachdem er dieses Verhältniß gelöst hatte, folgte er wieder seinem freien künstlerischen Wandertriebe und zwar bis über den Ocean. Seine Gastspiele in Nordamerika im Jahre 1869 gehörten zu den erfolgreichsten, deren deutsche Schauspieler in der transatlantische Welt sich rühmen dürfen. Von dort zurückgekehrt, gehörte er dem Berliner Hoftheater einen Winter hindurch an; er war der entschiedene Liebling des Berliner Publicums, und die Abende, an denen er auftrat, waren keine verlorenen für die Casse des Hoftheaters. Nach Laube’s Fortgang von Leipzig meldete sich Haase neben zahlreichen anderen Bewerbern zur Uebernahme der Direction in der Pleißestadt. Der Rath entschied sich für ihn, und seine sechsjährige Directionsführung bewahrte dem Leipziger Stadttheater seine hervorragende Stellung unter den deutschen Bühnen. Durch mancherlei Klippen hindurch leitete er das Leipziger Theaterschiff, nicht immer mit gleich günstigem Fahrwind, doch mit unerschrockenem Muthe und mit sicherer Hand, sodaß im letzten Jahre seiner Directionsführung Oper und Schauspiel ein vortreffliches Ensemble aufwiesen, und als er von der Leitung zurücktrat, das Publicum die wärmsten, ja wahrhaft enthusiastische Beweise seiner Theilnahme dem scheidenden Director und seinem von ihm unzertrennlichen Collegen, Herrn von Strantz, gab.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_664.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)