Seite:Die Gartenlaube (1876) 661.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Wölkchen an ihren Kanten; ein schwerer Nebelstreif lagerte zu ihren Füßen auf dem See. Nach Westen zu war aber die Gebirgskette noch von breiten Dunstmassen umwogt; nur hier und dort hob sich eine leuchtende Kuppe befreit empor.

„Wie lockt doch alles Geheimnißvolle!“ sagte Valentine. „So oft ich den Morgennebel schaue und auf das Hervortreten der Berge warte, überkommt mich dieselbe Empfindung, wie als Kind, wo man hinter verschlossener Thür auf den Christbaum harrte. Und so steht man immer im Leben vor irgend einer niedergelassenen Gardine, wartet auf irgend eine Erfüllung.“

„Ja, es gleicht dem Leben,“ stimmte er zu. „Hier ein wenig Glanz, dort ein wenig Glanz, zuweilen alle Höhen verhüllt, dann wieder ein glorreicher Augenblick. Sinken die Nebel – gut. Steigen sie, dann verschwinden Himmel und Höhen ein für allemal.“

„Das Himmelreich aber bleibt, und die Erde,“ sagte Valentine ruhig. „Wer dürfte auf ewigen Sonnenschein rechnen? Auch an sonnenlosen Tagen und Orten blüht und reift, was gepflegt wird. Als Kind verlangt man Weihnachtskerzen, und sammelt Muscheln und Blümchen; später verlangt man gar die Sterne vom Himmel und sammelt Schmerzen – zuletzt hält man gelassen Umschau, und sammelt Menschen.“

„Dazu gehört eine Toleranz der Stimmung, wofür Sie beinahe zu jung sind, Fräulein.“

„Zu jung? Ich? Uebrigens ist das, was Sie Toleranz nennen, wohl mehr eine Frucht der Erfahrung, und mit solcher haben die Jahre nichts zu schaffen. Man kann früh wie spät an eine Grenze gelangen, wo sich von selbst ein Halt gebietet, und ich glaube, Jeder, der dem Leben einmal fest in die Augen geschaut hat, wird Anderen Gerechtigkeit widerfahren lassen.“

„Und Sie sprechen aus Erfahrung?“

„Ja.“ Ein leiser Zug von Strenge legte sich um ihre feinen Lippen dann sah sie mit sympathischem Blicke zu ihm auf. „Sie sind Künstler,“ sagte sie herzlich, „Ihr Theil ist ewige Jugend. Die Welt gehört Ihnen anders, besser als uns Uebrigen. Ich darf nicht sagen, daß ich Sie darum beneide, denn nichts in mir ist großartig genug, um auch nur in Gedanken solche Höhen zu erstreben, aber ich kann Ihre Schöpfungen nachfühlen, und danke Ihnen, daß Sie mir den Blick in eine weite, nie der Klarheit entbehrende Welt aufgethan.“

Er richtete sein tiefes Auge mit eigenthümlichem Ausdrucke auf sie. „Sie gaben mir weit mehr durch Ihr Verständniß, Fräulein Valentine. Kein Mensch hat je Ursache, einen anderen zu beneiden, am wenigsten, wenn dieser Andere ein Künstler ist. Die eigene Kraft zu fühlen, und dabei in der eigenen Schwäche erlahmen, immer nach einem Spiegelbilde der Schönheit ringen, das dem Erfassen entflieht – ist ein Geschick, das vom gegenwärtigen Augenblicke jeden Genuß wegzehrt.“

„Und das dennoch keiner der Begnadigten freiwillig mit einem anderen vertauschen würde,“ entgegnete Valentine, indem sie dem Ufer zuschritt.

„Sie gehen schon hinein?“

„Papa erwartet mich zum Kaffee.“

„Noch nicht gefrühstückt? Und doch sah ich Sie schon vor einer Stunde auf dem Balcon!“

„Papa nimmt seine Mahlzeiten ungern allein. Wollen Sie mich zu ihm begleiten, dann wird er doppelt zufrieden sein.“

Als Beide die Terrasse betraten, erschien der General eben, auf seines Dieners Arm gestützt, an der Ecke des Hauses. Er ging mühsam; eine in der ersten Schlacht des diesjährigen Krieges erhaltene Fußwunde war nun zwar geheilt, hatte aber bedeutende Schwäche zurückgelassen, und es ward ihm schwer, ohne Beistand auch nur wenige Schritte zu machen. Sein Führer stützte die gedrungene, schwerfällige Gestalt mit großer Sorgfalt, und Vater und Tochter langten zu gleicher Zeit an dem unmittelbar vor der Hauswand stehenden, vor Wind geschützten Tische an, auf welchem bereits das Kaffeegeschirr stand.

„Gut geschlafen?“ fragte Valentine freundlich und bot ihrem Vater die Hand.

Der eigensinnige Zug, welcher um die schmalen Lippen des Generals lagerte, verschärfte sich, während er gereizt entgegnete: „Ich schlafe nie gut – das könntest Du wissen. Guten Tag, Herr Bernardin! Sie kommen, wie mir scheint, schon von einer Promenade durch Thau und Nebel zurück – nicht wahr? Was doch manche Leute Alles vertragen! Wird auch nicht ewig dauern.“

Sein mürrischer Blick maß die kraftvolle Gestalt des Künstlers mit einem Ausdruck von Neid, während er sich ächzend niederließ. „Wenn man sich freilich eines so guten Appetits zu erfreuen hat, wie Sie –“

„Nun, Papa,“ sagte Valentine mit heiterem Auge, während sie ihm einschenkte; „was diesen Punkt betrifft, hast Du doch auch nicht zu klagen.“

„Meinst Du? Ich lebe freilich nicht blos von Vergißmeinnichtsalat, wie Du, aber seit ich herumkriechen muß, wie eine Schnecke, kann ich mir nichts Ordentliches mehr zumuthen – ein miserables Leben, das!“

„Auch dies, Herr General, wird nicht ewig dauern,“ tröstete Bernardin lächelnd, während er am Tische Platz nahm und sich eine Cigarre ansteckte. „Ich finde Sie seit Ihrem Hiersein bedeutend gekräftigt; das Bad, die Landluft haben offenbar ihre Schuldigkeit gethan – noch kurze Geduld, und Sie sind wieder fest im Sattel.“

„Haben gut reden,“ sagte der alte Herr ärgerlich. „Mein Lebtag komme ich nicht wieder auf Sattel und Gaul – das weiß ich besser. Ein armseliger Invalide, zu nichts gut, als herumzuhumpeln und dem Herrgott seinen Tag abzustehlen. Sind Morgens meine Stiefeln angezogen, dann bin ich fertig mit allen Geschäften. Da wäre ein ehrlicher Soldatentod tausendmal besser gewesen –“

„Papa!“ unterbrach ihn Valentine sanft.

„Nun ja – Du hättest dabei auch weiter nichts eingebüßt; jetzt wär’s verwunden. Nützen können wir einander doch nicht viel.“

Ihre Lippen zuckten; sie schwieg aber.

Bernardin’s Auge streifte einen Moment über ihr Gesicht hin; es war schon wieder ruhig, doch zitterte ein Tropfen in den gesenkten Wimpern.

Auf der Terrasse wurde es lebendiger. Hier und dort besetzte sich einer der Tische mit frühstückenden Langschläfern; frischgewaschene, glänzende Kindergesichter kamen zum Vorschein und eilten der unter den Bäumen hängenden Schaukel zu. Mit all ihrem Handwerkszeug ausgerüstet, strebten bärtige und unbärtige Künstler ihren auserwählten Standpunkten entgegen. Der Eine trug seine Staffelei auf dem Rücken, wie die Schnecke ihr Haus; der Nächste erschien, zur Kahnfahrt nach der jenseitigen Waldspitze ausgerüstet, Ränzel und Malerstock auf den Schultern, gleich einem fahrenden Schüler. Drunten am Strande tauchte hier und dort zwischen Büschen und Bäumen ein ausgespannter Sonnenschirm auf, wie ein gelber Riesenpilz, unter welchem ein Erdmännlein hockt. Es war ein Morgen, geschaffen für Kinder, für Künstler, für das Genießen. Die Sonne tagte immer flammender. Himmel und See blickten einander mit klarblauen Augen an. Hoch mit dem letzten Heu beladen, schiffte der morsche Einbaum schwerfällig dem Lande zu. Ein Segelschiffchen flog gleich einer Schwalbe über das schimmernde Wasser, vom Ostwinde getrieben. Zwei junge Mädchen in sommerlichen Gewändern huschten aus dem Hause, und streiften dicht am Frühstückstische des Generals Wittstein vorüber. Während sie sich verbeugten, grüßte die Schönste, Lachendste der Beiden Bernardin mit den Wimpern und wandte im Vorübergehen das feine Hälschen nach ihm zurück, indem sie aus dem kleinen Armkorbe eine angebrochene Semmel nahm und zeigte. Er schüttelte lachend den Kopf und klopfte mit dem Finger auf das Skizzenbuch, welches aus der Tasche seiner Joppe hervorragte.

„Haben Sie wirklich den Muth, nicht zu folgen, wenn die schöne Resi lockt?“ scherzte Valentine.

„Wenn die schöne Resi auf dem Wege ist, die Klosterenten zu füttern, sehnt sie sich weniger nach meiner Begleitung, als nach dem Rest meiner Frühstückssemmel,“ entgegnete Bernardin, indem er aufstand, sich zu verabschieden. „Heute habe ich weder Brod noch Zeit auszustreuen; ich will an die Arbeit. – Werden Sie den günstigen Tag zu einem Ausfluge benützen?“

„Papa äußerte gestern Lust, nach dem rothen Kreuze hinüber zu fahren,“ sagte Valentine mit halb fragendem Blick auf ihren Vater. „Bleibt es dabei?“

„Hast Du für einen Fährmann gesorgt?“ fragte der General zurück. „Sonst danke ich. Es bringt mich um den Athem, wenn ich zuschauen muß, wie Du Dich selbst mit dem Rudern abquälst.“

„Ich erwarte Bescheid. Da kommt meine Sendbotin eben

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_661.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)