Seite:Die Gartenlaube (1876) 647.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Vor dreiundsechszig Jahren.


Nicht die geringste unter den Annehmlichkeiten der schönen Hauptstadt Sachsens ist es, daß ihre Bewohner in kürzester Zeit die rußige Stadtluft mit dem würzigen Odem der Berge vertauschen können. Zu den am schnellsten zu erreichenden Thalgründen in Dresdens Nähe gehört der Seidewitzgrund. Es giebt nicht leicht etwas Reizvolleres, als dieses liebliche, abwechselungsvolle stille Thal mit seinem birkendurchwirkten frischen Tannengewande und dem murmelnden Forellenwasser der Seidewitz, welches noch von Pirol- und Finkengesang übertönt wird.


Schloß Kukukstein.
Nach der Natur aufgenommen von M. Steche.


Kaum einem Menschen begegnet man im stillen Grunde, der, sich langsam verengend, in fortwährenden Windungen sich hinzieht; wir gehen an einer fleißigen Schneidemühle vorüber und erblicken bald nach zweistündigem Marsche auf dem Saume der linken Thalwand ein romantisches thurmgeschmücktes Schlößchen. Es ist Kukukstein. Fast in demselben Momente sind wir, links einbiegend, im alten Städtchen Liebstadt, welches sich in den engen Thalkessel einschmiegt, über sich das Schloß und gegenüber auf niedriger Anhöhe seine schmucke Kirche. Die ganze Zusammenwirkung von Städtchen, Schloß und Kirche erinnert an die gemüthlichen Zeichnungen unseres Ludwig Richter, und ich müßte mich sehr irren, wenn der Meister nicht den dicken Schloßthurm mit seinen vier kecken Eckthürmchen sollte verewigt haben, etwa auf dem Blatte, wo die Kinder nach dem bekannten Goethe’schen Spruche von der alten Obstfrau viele Aepfel für wenig Geld kaufen wollen.

Außer seiner anmuthigen Lage bietet das Städtchen nur ein geringes Interesse; seine Geschichte, seine Leiden und Freuden hat es mit anderen Orten gemeinsam; öftere Verheerungen durch Feuersbrünste, vernichtende Krankheiten, kriegerische Gräuelthaten der Schwedenzeit bieten wenig Sympathisches für uns. Erwähnenswerth bleibt aber die Cultur der Strohflechterei, welche in dem kaum tausend Einwohner zählenden Städtchen in Blüthe steht. Das Weizenstroh der umliegenden Felder eignet sich vorzüglich zum Flechtwerk; wenn der Weizen sorgfältig eingeerntet, trennt man die Aehren ab und zerschneidet die Halme so, daß die Knoten herausfallen; nun wird das Stroh geschwefelt und gewässert und, hierdurch mürbe gemacht, in schmale Streifen gespalten, um dann von Jung und Alt zu dem verschiedenartigsten Flechtwerke verarbeitet zu werden; gerade die geschmeidigen Fingerchen der Kleinen spielen bei der mühsamen Arbeit eine nicht unbedeutende Rolle. Gegen zwanzigtausend Menschen der Gegend von Altenberg bis hinab nach Dohna und in das Gottleubathal erwerben durch diese Strohflechtereien ihren Unterhalt.

Die stattliche massive Kirche erinnert durch schöne Grabmäler an die früheren Besitzer von Stadt und Schloß, an die von Bünau, ein im Mittelalter mächtiges sächsisches Adelsgeschlecht, dessen Kunstsinn sich in ihrer edel ausgeführten Begräbnißstätte zu Lauenstein ein herrliches Denkmal gesetzt hat.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_647.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2020)