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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 39.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

„Ah, historische Studien!“ wiederholte der Assessor. „Da möchte ich Sie doch fragen, ob Sie nicht die große Autorität auf diesem Gebiete, den Professor Schwarz, kennen – er ist mein Onkel. Doch Sie kennen ihn jedenfalls; er ist ja an der Universität zu J. thätig, wo Herr Nordeck studirt hat.“

„Ich habe das Vergnügen,“ sagte Fabian kleinlaut, mit einem scheuen Blick auf das Zeitungsblatt.

„Wie sollten Sie auch nicht!“ rief der Assessor. „Mein Onkel ist ja eine Berühmtheit, eine Capacität allerersten Ranges; wir haben allen Grund stolz zu sein auf die Verwandtschaft, wenn auch unsere Familie sonst manchen Namen von gutem Klange aufweist. Nun, ich denke ihr auch keine Schande zu machen.“

Der Doctor stand noch immer ängstlich behütend vor seinem Schreibtische, als müsse er ihn gegen ein Attentat von Seiten des Assessors sichern, doch dieser hatte sich viel zu sehr vertieft in die Bedeutung seiner Familie im Allgemeinen und die seines berühmten Onkels im Besonderen, um den Schreibereien eines simplen Hauslehrers jetzt noch Beachtung zu schenken; gleichwohl fühlte er sich veranlaßt, diesem eine Artigkeit zu sagen.

„Es ist aber doch sehr anerkennenswerth, wenn auch Laien sich für solche Studien interessiren,“ meinte er herablassend. „Ich fürchte nur, Sie haben hier nicht die nöthige Muße dazu. Es ist wohl sehr unruhig im Schlosse? Ein fortwährendes Kommen und Gehen von den verschiedensten Persönlichkeiten, nicht wahr?“

„Das mag wohl sein,“ versetzte Fabian arglos und ohne jede Ahnung des Manövers, das sein Besuch sich erlaubte, „aber ich merke nichts davon. Waldemar hat die Güte gehabt, die einsamsten und ruhigsten Zimmer für mich auszusuchen, weil er meine Neigung kennt.“

„Natürlich, natürlich!“ Hubert stand jetzt am Fernster und versuchte von hier aus einen Ueberblick zu gewinnen. „Aber ich sollte doch meinen, solch ein jahrhundertealtes Gebäude wie dieses Wilicza mit seinen historischen Erinnerungen müßte auch für Sie von Interesse sein. All diese Säle, Treppen und Gänge! Und was für mächtige Kellergewölbe muß das Schloß haben! Waren Sie schon in den Kellern?“

„In den Kellern?“ fragte der Doctor auf’s Aeußerste betroffen. „Nein, Herr Assessor, was sollte ich denn dort thun?“

„Ich würde hineingehen,“ sagte der Assessor. „Ich habe eine Vorliebe für solche alte Gewölbe, wie überhaupt für alle Merkwürdigkeiten. – Dabei fällt mir ein, ist denn die große Waffensammlung des seligen Herrn Nordeck noch vollständig? Er soll eine höchst kostspielige Liebhaberei in dieser Hinsicht besessen und Hunderte der schönsten Büchsen und Gewehre aufgehäuft haben; ob sie wohl noch vorhanden sind?“

„Danach müssen Sie seinen Sohn fragen!“ Doctor Fabian zuckte die Achseln. „Ich gestehe, daß ich noch nicht im Waffensaale gewesen bin.“

„Er wird auf der andern Seite liegen,“ meinte Hubert, sich mit seinem berühmten Polizeiblicke orientirend. „Nach der Beschreibung Frank’s ist es ein düsteres, unheimliches Ding wie überhaupt das ganze Wilicza. – Haben Sie denn noch nicht davon gehört, daß es hier umgehen soll? Haben Sie auch des Nachts nie etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches bemerkt?“

„Des Nachts schlafe ich,“ erklärte der Doctor ruhig, aber mit leisem Lächeln über den Gespensterglauben seines Besuches.

Der Assessor sandte einen anklagenden Blick zum Himmel. Dieser Mensch, den ein Zufall mitten in das Schloß hineingesetzt hatte, sah und hörte nicht, was um ihn her vorging. Er kannte die Keller nicht, er war noch nicht einmal im Waffensaale gewesen, und des Nachts schlief er sogar. Aus diesem harmlosen Bücherwurme war nichts herauszubringen – das sah Hubert ein, und so verabschiedete er sich denn nach einigen Höflichkeiten und verließ das Gemach.

Langsam schritt er den Corridor entlang; bei der Ankunft hatte ihn ein Diener in Empfang genommen und nach dem Zimmer des Doctors geführt; jetzt auf dem Rückwege war er allein, allein in dem „Verschwörungsneste“, das freilich am hellen Vormittage mit seinen teppichbelegten Gängen und Treppen so ruhig, so vornehm und ungefährlich aussah, wie das loyalste Schloß des loyalsten Gutsherrn. Aber der Assessor ließ sich durch diesen Anschein nicht täuschen; er witterte rechts und links die Verschwörung, die er leider nicht greifen konnte, und streckte die Nase hoch in die Luft. Da war eine Thür – sie kam ihm verdächtig vor. Sie lag im Schatten eines mächtigen Pfeilers und war auffallend tief und fest in die Mauer gefügt. Die kleine Pforte führte jedenfalls zu einer Seitentreppe, vielleicht in geheime Gänge, möglicher Weise sogar an die Keller hinab, welche die Phantasie Hubert’s sofort mit verborgenen Waffenlagern und ganzen Schaaren von Hochverräthern bevölkerte. Ob man es versuchte, wenigstens auf die Klinke zu drücken? Im schlimmsten Falle konnte man sich mit einem Irrthume, mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_643.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)