Seite:Die Gartenlaube (1876) 620.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Ich habe das Textbuch vor mir liegen und begreife, daß Wagner zu diesem Texte nicht anders componiren konnte, und ohne im Stande zu sein, aus dem Gedichte auch nur drei Tacte nachzusummen, klingt nur doch der furchtbar düstere Nornengesang aus den gedruckten Worten heraus. Ebenso die Scene zwischen Alberich und Hagen, die nichts geringeres darstellt, als den Traum während eines sogenannten Alpdrückens. Werden unsere Nerven solchergestalt gefesselt, so leistet der Tonmaler in dem Rheintöchtergesang zu Anfang des dritten Actes so anmuthig Liebliches, daß man plätschernde Wellen in Musik und Gesang verwandelt glaubt, und wenn Männer von Autorität, wie Professor Schelle aus Wien und eine Menge Andere, die mit Wagner artistisch nicht auf Du und Du stehen, in der letzten Rede der Brunhilde am Schlusse des Dramas mit das Größte erblicken, „was im musikalisch-dramatischen Aufbau je geleistet ist“, so darf ich armer Feuilletonist, wenn auch fast invalide geworden durch die Anstrengung des Hörens und Sehens, ebenfalls sagen: Ja, es war großartig in seiner Art. Es war eine Erscheinung in der Kunstgeschichte. Ich thue dies um so lieber, als man auf die „Gartenlaube“ in Bayreuth sehr böse zu sprechen war, in Folge ich weiß nicht welcher Notiz dieses Blattes.[1] Die Parteien verlangen ja, daß man blind in ihr Horn stößt.

Item, mit der „Götterdämmerung“ hat Wagner bei den Fachmusikern gewaltige Steine in’s Brett gewonnen, und die Broschüren werden schon gewetzt, die dafür geschwungen werden sollen, wie „Nothung das neidliche Schwert“. Was mich betrifft, so habe ich mich von aller propagandistischen Beeinflussung fern gehalten und denjenigen meiner Freunde, welche, wie ein Spottvogel bemerkte, am Schlusse des Bühnenfestspiels von Wagner heilig gesprochen werden sollen, rundweg erklärt, die „Gartenlaube“ sei keine Arena und ich kein Gladiator. Ich habe hier nur harmlose Fest-Plaudereien bringen wollen und sie daher auf andere Kampfplätze vertröstet. Die kunstgeschichtliche Bedeutung der Bayreuther Tage wird ja nicht mehr bestritten.

Es war mir heute vergönnt, einen Blick in das vertiefte Orchester zu thun, das sich zum Theil bis unter das Podium der Bühne erstreckt. Da stand Capellmeister Richter und dirigirte in bloßen Hemdsärmeln; der berühmte Violinist Wilhelmj ebenso, und alle Orchestermitglieder hatten es sich in gleicher Weise möglichst bequem gemacht. Ein drolliger Anblick, die Künstler so arbeiten zu sehen! Vom Erhabenen zum Komischen nur ein Schritt. Aber was thut es? Man seufzt und stöhnt über die Strapazen und hält aus.

19. August.     

Heute erwachte ich etwas – übernächtig.

Er hat sich ganz gut aus der Klemme gezogen, in welche ihn seine geflügelten Worte bei Gelegenheit des Hervorrufes am Schlusse der „Götterdämmerung“ gebracht hatten.

Ich rede hier von dem Festbankette, das zu Ehren des Meisters in den Räumen der großen Restauration auf dem Theaterplatze gehalten wurde und wo das Essen wieder so mittelmäßig war, wie man es für fünf Mark das Couvert ohne Wein verlangen kann.

Wohl an tausend Theilnehmer hatten sich eingefunden und das Arrangement war insofern vorzüglich, als Wagner mitten unter der Gesellschaft Platz genommen hatte und mit seinem Sitze keinerlei Ostentation getrieben wurde. Der Meister war in der heitersten Stimmung, und die Frau Meisterin (Frau Cosima) hatte ihre Sonntagsliebenswürdigkeit für Alle. Es dauerte denn auch nicht lange, so ergriff Wagner das Wort, um seine vorgestrigen Worte zu schützen, von „Journalisten und Recensenten“ mißverstanden zu werden, indem er erklärte, er habe eine neue Kunst gemeint, die sich von fremden Einflüssen emancipirt hätte und specifisch deutsch bleibe. Damit löste sich die Dissonanz denn wieder in ein harmonisches Wohlgefallen auf, denn die anfängliche Stimmung bei dem Festbankette war eine ziemlich verlegene. Als später Wagner nochmals das Wort ergriff und ein Hoch auf Franz Liszt ausbrachte, dem er, wie er mit gerührter Stimme betonte, Alles verdanke, brauste der Jubel rückhaltslos. Es redeten auch Duncker aus Berlin, dieser mit Vorbehalt, da die Zukunft erst entscheiden müsse, und nach ihm Graf Appony in magyarisch schwungvoller Begeisterung. Auch Liszt sprach einige wenige Worte, die mit einer Umarmung Wagner’s endeten.

Jetzt entsteht eine allgemeine Bewegung in den Sälen. Ein silberner Lorbeerkranz ist von Frau Lucca aus Italien angekommen. Die Baronin von Schleinitz setzt ihn dem Meister auf’s Haupt und führt diesen durch den Saal. Hier zeigte Wagner, wie liebenswürdig er sein kann, wenn er will. Er scherzte über die ihm widerfahrene Ehre und setzte den Kranz zeitweilig seiner Begleiterin auf’s Haupt, welche bekanntlich in der Wagner-Partei das ist, was Jeanne d’Arc zu Karl’s des Siebenten Zeit war: die Bannerträgerin des Zukunftsdramas.

Mein Tischnachbar war ein von seinen Landsleuten im Gedränge getrennter französischer Journalist, M. Jules de Brayer. Die Höflichkeit gebot mir Reserve gegen den Franzosen, aber dieser legitimirte sich als ein warmer Verehrer Wagner’s und sprach unverhohlen seine Freude darüber aus, daß die Kunst auf deutschem Boden auch das Feindschaftsgewächs von 1870 entwurzeln werde. Es war das erste und letzte Mal, daß ich in Bayreuth von Politik sprach. Die alte Wahrheit! Auf neutralem Gebiete (hier auf dem der Kunst) verständigen sich die Menschen immer sehr leicht.

20. August.     

„Erholungstage“ heißt hier der Zeitraum, der zwischen jedem Cyclus der Vorstellungen liegt. Ich kann diese Bezeichnung nicht zutreffend finden, denn die Gespräche über das Gesehene und Gehörte gestalten sich in den Erholungstagen noch animirter. Aber es tritt ein Decorationswechsel in der Gesellschaft ein. Die Kaiser und Könige sind abgereist. Mit ihnen, ausgenommen die allerdings noch sehr zahlreichen Patronatsherrschaften, auch eine Menge Namen von Berühmtheit. Die zweite Serie brachte neue Menschen, neue Namen. Wir älteren Bewohner Bayreuths finden Muße, auch hier und da einen Blick nebenher und nebenhin zu werfen, wozu uns die Sturm- und Drangperiode des ersten Cyclus keine Zeit ließ.

Täuscht mich mein Ohr nicht? Die Kinder auf den Straßen pfeifen und singen Motive aus dem „Ring der Nibelungen“. Wahrscheinlich haben sie dieselben von der artistischen Einquartierung aufgeschnappt. Am Ende zwitschern die Sperlinge auf den Dächern noch das Waldvöglein-Motiv aus „Siegfried“. Ist es ja doch, als ob eine artistische Epidemie in der Stadt herrschte. Ein ehrsamer Schullehrer hatte im „Siegfried“ die stumme Rolle des Bären übernommen und mimte, in ein Bärenfell gesteckt, auf allen Vieren ganz vorzüglich. Die Turner arbeiten im „Rheingold“ als Nibelungen mit, und zwar brillant. Eine Schaar kleiner Kinder von vier bis sechs Jahre wirkt mit in „Götterdämmerung“ im Hochzeitszuge des Siegfried. Es ist dies ein von Fricke aus Dessau wunderbar poesievoll arrangirtes Bild. Die tänzelnde Kinderschaar säuselt ganz flüchtig, wie Blumen vom Winde getrieben, nur einmal über die Scene, aber der Eindruck ist berauschend schön. Ueberhaupt ist das schauspielerische und Regiewesen in den Vorstellungen das Höchste, was je geleistet worden ist. Eine Scene, wie die zwischen Alberich und Hagen (Hill aus Schwerin und Siehr aus Wiesbaden) kann man geradezu als akademisch-dramatisch bezeichnen. Niemann’s Siegmund in der „Walküre“ ist von imponirender Wirkung. Und die Chöre sind im Arrangement nie, auch nicht annähernd so großartig in Scene gesetzt worden, wie es hier der Fall war in „Götterdämmerung“.

Ich benutzte heute den Erholungstag, um Siehr, den eben genannten Bassisten, zu besuchen. Er wohnt in einem – Irrenhause, uns gegenüber ist das Zuchthaus, in welchem eine Anzahl Orchestermitglieder residiren – mit Kullmann unter einem Dache. Eine köstliche Ironie des Zufalls! Aber es wohnt sich in beiden Gebäude bequem und kühl; die Verwaltung derselben vermiethete Zimmer an Jedermann in Bayreuth.[WS 1] Auch Niemann hat Chambregarnie im Irrenhause genommen, und so kann ich denn die Thatsache nicht leugnen, daß mich mein Aufenthalt in Bayreuth ebenfalls, wenn auch nur auf ein paar Stunden, in’s Tollhaus geführt habe. –

22. August.     

Doch der Mensch soll nicht renommiren. Ich befand mich heute so abgespannt, daß ich das Theater versäumen mußte und beinahe in der Stimmung bin, einen Leitartikel zu schreiben. Auch wird es in unseren Kreisen öder. Die meisten Berichterstatter

  1. Diese Notiz (in Nr. 31) bestritt die nationale Bedeutung des Bayreuther Unternehmens, ein Protest, den wir auch heute noch aufrecht erhalten müssen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. dazu Erklärung
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_620.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)