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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


einer grollenden Empfindung kämpfte, aber die tiefe Falte auf der weißen Stirn, die trotzig aufgeworfenen Lippen zeigten, daß diese Empfindung sich nicht so leicht niederkämpfen ließ, sondern ihren Platz behauptete. Die Jagd mit ihrem Lärme entfernte sich mehr und mehr. Sie schien sich nach der Richtung des Flusses hinzuziehen und diesen Theil des Reviers völlig frei zu lassen, all’ die wirren Töne verklangen in immer weiterer Ferne, nur die Schüsse hallten noch dumpf herüber; jetzt trat auch darin eine Pause ein, und es wurde still, todtenstill im Walde.

Eine ganze Weile mochte Wanda so regungslos gestanden haben, als ein Schritt und ein Rauschen in ihrer unmittelbaren Nähe sie aufschreckte. Unwillig richtete sie sich empor und wollte eben der Störung weiter nachforschen, als die Gebüsche sich theilten und Waldemar Nordeck daraus hervortrat.

Auch er stutzte bei dem Anblicke der Gräfin – die unerwartete Begegnung schien ihm ebenso unangenehm zu sein wie ihr, aber ein Zurücktreten war nicht mehr möglich; dazu standen sie sich zu nahe gegenüber. Waldemar grüßte leicht und sagte:

„Ich wußte nicht, daß Sie die Jagd bereits verlassen hatten. Gräfin Morynska ist doch sonst als unermüdliche Jägerin bekannt – und sie fehlt bei dem Schlusse des heutigen Tages?“

„Die Frage möchte ich Ihnen zurückgeben,“ versetzte Wanda. „Sie, gerade Sie fehlen bei dem letzten Treiben?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe vollständig genug daran. Mir stört der Lärm und das Durcheinander eines solchen Tages die ganze rechte Jagdlust. Mir fehlt die Mühe, die Aufregung der Jagd und vor Allem die Waldesstille und Waldeseinsamkeit.“

Das war es nun gerade, was Wanda vorhin vermißt, was sie hier gesucht hatte, sie wollte das aber natürlich um keinen Preis zugeben, sondern fragte nur:

„Sie kommen von der Försterei?“

„Nein! Ich habe nur meinen Normann dorthin vorausgesendet. Die Jagd geht nach dem Flusse zu, sie muß aber bald zu Ende sein und kommt jedenfalls auf dem Rückwege hier vorüber. Das Rendez-vous ist ja in unmittelbarer Nähe.“

„Und was thun wir inzwischen?“ fragte Wanda ungeduldig.

„Wir warten,“ entgegnete Waldemar lakonisch, indem er seine Flinte abnahm und den Hahn in Ruhe setzte.

Die Falte auf der Stirn der jungen Gräfin vertiefte sich. „Wir warten.“ Das klang so selbstverständlich, als setze er auch ihr Bleiben voraus. Sie hatte große Lust, sofort nach der Försterei zurückzukehren, aber nein! Es war seine Sache, den Platz zu räumen, auf dem er sie so ohne Weiteres in ihrer Einsamkeit gestört hatte. Sie beschloß zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, ein längeres Zusammensein mit diesem Nordeck aushalten zu müssen.

Er machte indessen gar keine Anstalten zum Gehen; er hatte seine Flinte an einen Baum gelehnt und stand nun mit verschränkten Armen, die Umgebung betrachtend. Die Sonne hatte es heute nicht ein einziges Mal vermocht, den Wolkenschleier zu durchdringen, nur jetzt im Niedergehen färbte sie ihn mit hellerem Lichte. Am westlichen Horizont flammte ein gelber Schein, der fahl und ungewiß durch die Bäume schimmerte, und auf der Wiese begannen die Nebel aufzusteigen, die ersten Vorboten des herannahenden Abends. Der Wald sah schon recht herbstlich aus mit seinen halbentlaubten Bäumen und den dürren Blättern, die den Boden bedeckten. Da war auch nicht ein Hauch mehr von jenem frischen Lebensodem, der ihn im Frühling und Sommer durchweht, von jener mächtigen Lebenskraft, die dann in allen Adern und Pulsen der Natur zu pochen scheint – überall nur schwindendes Dasein, langsames, aber unaufhaltsames Vergehen.

Die Augen der jungen Gräfin hafteten wie in düsterem Nachsinnen auf dem Gesicht ihres Gefährten, als wolle und müsse sie dort irgend etwas enträthseln. Er schien die Beobachtung zu spüren, obgleich er abgewandt stand, denn er wendete sich plötzlich nach ihr um und sagte gleichgültig, wie man eine allgemeine Bemerkung hinwirft:

„Es ist doch etwas Trostloses um solch eine abendliche Herbstlandschaft.“

„Und doch hat sie ihre eigene schwermüthige Poesie,“ meinte Wanda. „Finden Sie das nicht auch?“

„Ich?“ fragte er herb. „Ich habe mit der Poesie von jeher wenig zu thun gehabt – das wissen Sie ja, Gräfin Morynska.“

„Ja, das weiß ich,“ versetzte sie in dem gleichen Tone. „Aber es giebt doch Augenblicke, wo sie sich unwillkürlich Jedem aufdrängt.“

„Romantischen Naturen vielleicht, unsereiner muß schon zusehen, wie er ohne diese Romantik und Poesie mit dem Leben fertig wird. Ausgehalten muß es ja doch einmal werden, so oder so.“

„Wie gelassen Sie das sagen! Das blos geduldige Aushalten war doch sonst gerade Ihre Sache am wenigsten. Ich finde, Sie haben sich in diesem Punkte merkwürdig verändert.“

„Nun, man bleibt doch nicht sein Lebenlang ein leidenschaftlicher ungestümer Knabe. Oder trauen Sie es mir nicht zu, daß ich über Knabenthorheiten hinauskommen kann?“

Wanda biß sich auf die Lippen; er hatte es ihr gezeigt, daß er darüber hinauskommen konnte.

„Ich zweifle nicht daran,“ erwiderte sie kalt. „Ich traue Ihnen sogar noch manches Andere zu, was Sie freilich nicht zu zeigen für gut finden.“

Waldemar wurde aufmerksam. Sein Blick streifte einen Moment lang scharf und prüfend die junge Dame, dann aber entgegnete er ruhig:

„Dann setzen Sie sich in Widerspruch mit ganz Wilicza. Man ist hier wohl so ziemlich einig darüber, daß ich eine gänzlich ungefährliche Persönlichkeit bin.“

„Weil Sie durchaus dafür gelten wollen. Ich glaube nicht daran.“

„Sie sind sehr gütig, mir ganz unverdientermaßen eine Bedeutung beizulegen,“ sagte Waldemar mit unverhehlter Ironie. „Aber es ist doch grausam von Ihnen, mir das einzige Verdienst nehmen zu wollen, das ich in den Augen meiner Mutter und meines Bruders überhaupt besitze – harmlos und unbedeutend zu sein.“

„Wenn meine Tante den Ton hören könnte, mit welchem Sie das sagen, so würde sie ihre Ansicht wohl ändern,“ erklärte Wanda, gereizt durch seinen Spott. „Für jetzt stehe ich mit der meinigen allerdings noch allein.“

„Und so wird es auch bleiben,“ ergänzte Nordeck. „Man läßt in mir den unermüdlichen Jäger, nach der heutigen Probe vielleicht auch den geschickten Reiter gelten, weiter nichts.“

„Jagen Sie denn wirklich, Herr Nordeck, wenn Sie so den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umherstreifen?“ fragte die junge Gräfin, ihn scharf fixirend.

„Und was sollte ich Ihrer Meinung nach denn sonst thun?“

„Ich weiß es nicht, aber ich vermuthe, daß Sie Ihr Wilicza inspiciren, sehr gründlich inspiciren. Es giebt nun wohl keine Försterei, kein Dorf, keinen noch so abgelegenen Hof in Ihrem Gebiete, wo Sie nicht bereits gewesen sind. Sogar den Pachtgütern haben Sie Besuche abgestattet, und Sie werden sich wohl überall dort ebenso schnell orientiren, wie in den Salons Ihrer Mutter, wo Sie auch nur sehr selten erscheinen und eine sehr gleichgültige Rolle spielen. Aber es entgeht Ihnen kein Wort, kein Blick, überhaupt Nichts, was geschieht. Sie scheinen unserer Gesellschaft gar keine Beachtung zu schenken, und doch giebt es nicht einen Einzigen darunter, der nicht bereits vor Ihnen die Musterung hätte passiren müssen und Ihrer Beurtheilung anheimgefallen wäre.“

Sie hatte ihm das Alles Schlag auf Schlag mit einer Sicherheit und Bestimmtheit entgegengeworfen, die darauf berechnet war, ihn in Verwirrung zu bringen, und für den Augenblick fehlte ihm auch wirklich jede Antwort. Er stand mit tiefverfinstertem Gesicht, mit fest zusammengepreßten Lippen da und rang augenscheinlich mit seinem Aerger. Aber so leicht war diesem Nordeck nicht beizukommen. Als er wieder aufsah, stand die Wolke zwar noch drohend auf seiner Stirn, aber aus seiner Stimme klang nur der schärfste Sarkasmus.

„Sie beschämen mich wirklich, gnädige Gräfin! Sie zeigen mir soeben, daß ich vom ersten Tage meines Hierseins an der Gegenstand Ihrer eingehendsten und ausschließlichsten Beobachtung gewesen bin – das ist in der That mehr, als ich verdiene.“

Wanda fuhr auf. Ein Blick sprühenden Zornes traf den Verwegenen, der es wagte, den Pfeil mit solcher Sicherheit auf sie zurückzuschleudern.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_614.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)