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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Summe von fünfhundert Franken (vierhundert Mark) ein Jeder sich den Titel einer „Gründers der Kirche“ (Fondateur, Stifter) erwerben könne, für welche auserwählte Genossenschaft speciell wöchentlich eine Messe gelesen wird. Leider fehlt mir das Material zu einer Statistik dieses „Gründerthums“.

Unterdessen war der Abend hereingebrochen, der uns eine ungewöhnliche Demonstration religiöser Begeisterung vor Augen führen sollte. Die Massen sammelten sich wieder bei der Kirche in bewunderungswürdiger Ordnung, Mann für Mann mit einer Wallfahrtskerze bewaffnet. Langsam und feierlich bewegte sich dieser eigenthümliche Fackelzug zurück durch die Gassen des Städtchens. Verworren ertönte das Absingen der Lieder mit dem Murmeln der Gebete unter dem Klange der Glocken; wie eine unendliche Reihe von Irrlichtern blitzten die brennenden Kerzen in die Ferne durch das Dunkel der Nacht, in majestätischer Ruhe aber glänzten die Sterne herab und lächelten dem Treiben der Pilgerheerde zu, die glaubte, ein wohlgefälliges Opfer darzubringen ihrer milden, jungfräulichen Beschützerin, die weit über den Gestirnen throne als freundliche Fürbitterin beim Allmächtigen.

Eine kurze und harte Ruhe umfing die ermüdeten Wallfahrer meist unter freiem Himmel, in den Straßen oder auf den Bänken und Steintreppen der Kirche.


Die Grotte von Lourdes.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.


Vor Sonnenaufgang schon schallten die Glöcklein der Messen in ununterbrochener Reihenfolge; die Altäre waren dicht gedrängt von den Frommen umlagert, welche die Communion empfingen; Schaar um Schaar zog in Procession vor die Grotte, „wo man angesichts der weißen lächelnden Madonna das Kreuz immer wieder besser zu schlagen, die Hände zu falten, die Augen zum Himmel zu erheben, die Perlen des Rosenkranzes unermüdlich durch die Finger gleiten zu lassen, wo man die göttliche Kunst des Betens lernt.“ –

Nahe der Kirche führt ein bequemer Weg bis zur Höhe des kleinen „Calvarienberges“, auf welchem während der größeren Pilgerfahrten, wo die vier Wände natürlich keinen Raum mehr bieten, der allgemeine Gottesdienst gehalten wird. Unter dem mächtigen Kreuze erhob sich der Hochaltar, festlich geziert, unweit davon die Kanzel. Gegen neun Uhr Morgens begann die Ceremonie. Bis in die letzte der weiten, weiten Reihen drang die Stentorstimme des Karmeliters, der mit hyacinthischer Beredsamkeit die Bedrängnisse der Kirche schilderte und die Getreuen zu Beharrlichkeit und Ausdauer anfeuerte, welcher unter den Beistande der heiligen Jungfrau der endliche Sieg nicht fehlen werde. Die Morgensonne strahlte in ihrem hellsten Glanze auf die Tausende herab. Belebend zog der frische Luftstrom über die Häupter hin. Zu den Füßen öffnete sich das ganze Panorama der reizenden Thallandschaft, und in schweigender Majestät beherrschten die Pyrenäengipfel die feierliche Scenerie – selbst die kalte Neugierde des Unberufenen mußte weichen und machte einer unwillkürlich bewegten Stimmung Platz. Ist doch die Natur der erste und schönste Tempel, in welchem das religiöse Gefühl angesichts des blauen und unbegrenzten Himmels sich so gern und so frei entfaltet.

Und diese in ruhiger Andacht knieenden Pilger, theilten sie diese Empfindung? Gewiß, doch bewußt war sie ihnen nicht; das Göttliche, wenn es auf sie wirken soll, muß ihnen in Formen erscheinen, die dem Gefühle leicht faßbar sind; die Ideale der Vollkommenheit müssen sie in deren körperlichen Trägern anschauen.

Darum fühlt sich ihr Herz durch das Bild der Muttergottes, der tröstenden Fürbitterin, so gewaltig angezogen. Jahrhunderte hindurch hat der katholische Cultus dafür gesorgt, daß der hohe Gedanke der leeren Form zum Opfer falle; kein Gott ohne Altar, Weihrauch und Messe. Beim dreimaligen Schalle des Glöckleins pochten mechanisch tausend Hände auf die Brust – es wäre eine Sünde, es nicht zu thun. Hat unser Jahrhundert keine Rettung aus diesen Geistesirrungen? – Von der anderen Seite des Hügels klomm eine muntere junge Schaar heran. Die gallische Lebhaftigkeit und Lebenslust blitzte aus den Augen dieser fröhlichen Zöglinge der Erziehungsanstalt, die zahlreich, alle in schmucker Uniform, sich der Frühlingsferiensonne freuten, welche sie aus den dumpfen Pensionatsräumen hervorgerufen. Düster aber schritten neben ihnen die strengen Mentore. Was unter dem schwarzen Dreispitze hervorblickte, war ein Hohn auf die edle, hohe Aufgabe des Lehrerberufes, war Loyola’s Geist. Ein Blick hieß auf der Anhöhe die Fröhlichkeit verstummen; einige Rippenstöße brachten die wildesten der Jungen in Reih und Glied, und mit dem getheilten Gefühle von Scheu und Andacht im Ausdrucke der frischen Gesichter nahte sich die Generation der Zukunft Frankreichs der Stätte des Gottesdienstes. Daß das großartige Schauspiel seinen Eindruck auf die empfänglichen Gemüther nicht verfehlen konnte, ist sehr begreiflich, denn die jugendliche Phantasie, die hier so reiche Nahrung fand, konnte nicht dem Gedanken Raum geben, daß, was jetzt im Herzen des Knaben als fromme Begeisterung glühte, einst im Manne die Quelle einer verknöcherten Bigotterie und finsteren Ignoranz werden müsse.

Während der Nachmittagsstunden kehrten die Pilgercolonnen wieder zurück an den heimischen Herd, in die Stille und Einsamkeit ihrer Bergdörfer, begleitet von den Erinnerungen an die Wallfahrt, die in den Herzen haften wie die Einzelnheiten der ersten Reise in Gemüthe des Knaben. Der Clerus weiß den Festbummeltrieb sehr geschickt für seine Zwecke auszubeuten; der schlichte Bauersmann, der sonst das ganze Jahr kaum von seiner Scholle wegkommt, sieht die Wallfahrt, an der Theil zu nehmen ihm die bedeutend ermäßigte Fahrtaxe sehr erleichtert, gewiß nicht nur von ihrer religiösen Seite an, schreibt aber den wohlthätigen Einfluß, den das Reisen in seiner Stimmung hervorruft, nur einer übernatürlichen Inspiration zu. Der Katechismus hat ihn gewöhnt, für alles, was sein Gefühlsleben bewegt, überirdische Quellen zu suchen.

Der Anblick der vielen Kranken am geweihten Wasser führt uns auf die sehr materielle Seite dieser Gnadenorte; daß die Heilkraft nicht im Glauben und inbrünstigen Gebete, sondern im rein Aeußerlichen, dem unschuldigen Wasser gesucht wird, beweist der Umstand, daß fromme Leidende, die z. B. in Paray-le-Monial nicht erhört werden, zur concurrirenden Madonna in Lourdes pilgern, wie Patienten, die nach Bedürfniß ihre Curorte wechseln. –

Das Quellwasser muß gegen alle Gebrechen, die des Körpers wie die der Seele, seine Dienste leisten. Die Herzensgeheimnisse heirathsfähiger Mädchen sind nicht zum geringen Theile die Grundlage der Bitten, mit denen die heilige Jungfrau bestürmt wird. Die Resultate aber, die vielgepriesenen Wunder in ihrem Nichts bloß zu legen und mit den Waffen unumstößlicher Wahrheit dem frommen Betruge auf den Leib zu rücken, wäre eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_604.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)