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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


paradiesischer hätte wählen können, um einer empfänglichen Einbildungskraft in Verklärung zu erscheinen.

Bei unserer Ankunft wimmelten die engen Straßen und Plätze des Städtchens bereits von glaubenseifrigen Pilgern, die in kleinern Gruppen, meist unter Anführung eines Geistlichen, herumbummelten, überall heiterste Feststimmung in den Mienen; Extrazüge in langer Reihenfolge brachten stets neue Colonnen. Wir hatten Mühe, durch die Schaaren bis zum breit und bequem angelegten Wege vorzudringen, der den Wallfahrtsort mit der Grotte verbindet. Hier empfing uns das profane Gewühl und Getriebe des Jahrmarkts; eine Viertelstunde lang reiht sich ununterbrochen Bude an Bude, wo der prosaische Speculationsgeist sich vom frommen Wahne auf’s Reichlichste nähren läßt. Rosenkränze in allen möglichen Spielfarben, Gebetbücher, Bilder, Photographien, Scapuliere, Pilgerflaschen, Stöcke, Nippsachen, Brochen und Medaillons mit der Abbildung der Grotte, Alles in buntester Auswahl, um als theure Angedenken oder ersehnte Geschenke für die Angehörigen vom Pilger heimgebracht zu werden. Zwei in griechischem Costüme phantastisch aufgeputzte Händler boten in reicher Auswahl ihre Waaren edlerer Qualität feil, wie Jerichorosen und Gegenstände, fabricirt aus „Erde des heiligen Landes“, natürlich durch ostensibel vorliegende Urkunden und Siegel als echt bestätigt. In kleinen, auf einer Tafel vereinigten Steinen konnte ein frommes Herz den ersehnten Schauplatz des Neuen Testamentes sich vor Augen führen. Durch diesen Vorhof des Tempels von Jerusalem erreichten wir das Allerheiligste. Ein Eisengitter trennt die Grotte von dem weiten, bis zum Damme des Flusses mit Platten belegten Vorplatze. Die üppig am Felsen emporwuchernden Epheuranken rings um die Höhlung gewähren einen anmuthigen Anblick; aus dem freundlichen Grün lächelt, wie sich die Phantasie der jungen Seherin das Bild der heiligen Jungfrau ausgeschmückt, die Marienstatue von der hohen Nische herab dem Besucher entgegen.

„Je suis l’immaculée conception“ („ich bin die unbefleckte Empfängniß“), diese gleich einem Strahlenkranze im Halbkreise über ihrem Haupte schwebenden Worte in Goldbuchstaben weisen auf die der Verherrlichung des ersten der beiden großen modernen Dogmen geweihte Stätte hin. Zu den Füßen der Madonna aber dampfte der Opferrauch von unzähligen Kerzen empor. Jeder der Neuangekommenen reichte seine Gaben, die in allen möglichen Größen sich vorfanden, dem sammelnden Kirchendiener durch das Gitter hinein. Der Arme hatte sich viel zu bücken, denn aus der vor der Grotte knieenden Menge flogen in fast unaufhörlichem Regen Kupfer- und Silberstücke in diesen weiten Eingang zum bekannten Magen der Mutter Kirche. Sollten diese Spenden dem Bittgebete des Pilgrims mehr Nachdruck verleihen, so zierten die Wände der Höhlung in Masse die gewöhnlichen, so einfach und beredt sprechenden plastischen Gebilde, von welchen der Dichter singt:

„Und wer eine Wachshand opfert,
Dem heilt an der Hand die Wund’.
Und wer einen Wachsfuß opfert,
Dem wird der Fuß gesund.“

Ein Wachsherz von Kevelaer suchte ich indessen vergebens. Es war schwer, durch die vor dem Muttergottesbilde in betende Andacht versunkene Menge sich den Weg zur wunderwirkenden Quelle selbst zu bahnen. Aus einer großen Anzahl von Röhren ergießt sich das heilende Wasser in ein langes, schmales Bassin. Glücklich wer sich dem Quell so nahe brachte, um ungehindert trinken und sich waschen zu können; die Frömmsten zogen gar ihre Schuhe aus, um die Füße im Bassin zu baden. Und wer für sich selbst gesorgt hatte, füllte in heiligem Eifer die Flasche mit diesem frischen, ganz angenehm zu trinkenden Wasser, das die Kraft des Glaubens zum Universalmittel macht – ein ganz einträglicher Handelsartikel, wie die Masse der in einem Nebengebäude aufgespeicherten Flaschen beweist, die gesiegelt zum Verkauf ausgeboten werden und die Runde durch den ganzen katholischen Erdkreis machen. Unvergeßlich wird mir das Bild einer Mutter bleiben, die mit rührender Sorgfalt ihr kränkliches Kind mit dem heilbringenden Wasser wusch, der himmlischen Fürbitterin ihr Liebstes anvertrauend.

Unterdessen hatte der letzte Extrazug die Schaaren der in Lourdes anwesenden Pilger auf die enorme Zahl von ungefähr siebentausend Menschen gebracht, die sich vor der Stadt zum geschlossenen Zuge ordneten, welcher bald in unabsehbaren Reihen an uns vorüber der Grotte zumarschirte. Die Colonnen hatten sich streng nach den Departements, Arrondissements und Ortschaften aufgestellt; jeder Abtheilung voran wehete die Heiligenfahne. Ganz als militärischer Führer, die Ordnung überwachend, schritt der Curé an der Spitze seiner Gemeinde einher; ihm folgten die Spitzen der weltlichen Macht. In langsamem Processionsschritt bewegte sich die gläubige Heerde vorwärts, zum weitaus größten Theile Landleute aus den Pyrenäen, mit den kurzen Blousen, auf dem Kopfe die baskische Mütze, das dunkelblaue Béret, wie wir dasselbe in den Abbildungen aus dem Karlistenkriege zu sehen gewohnt sind, in der Hand oder umgebunden einen Quersack mit Lebensmitteln. Von Andacht oder Begeisterung vermochte ich keine Spur zu bemerken. Die Gesichtszüge verriethen kalte Gleichgültigkeit und gewöhnliche Neugierde, während die Lippen den Rosenkranz abmurmelten, dem vorsingenden Priester im Chore Antwort schrieen oder die zum Theil recht melodisch klingenden Pilgerweisen ertönen ließen. (Die Zahl der durch die Wallfahrten hervorgerufenen Marienlieder ist eine unendliche.) Nur eine größere Gemeinde hatte eine Musikbande mitgebracht, deren lebhafte, höchst unheilige Märsche gar seltsam mit dem Litaneiengeschwirre contrastirten. Sämmtliche Wallfahrer trugen als Brustdecoration ein kleines rothes Kreuz – traurige Epigonen der Eroberer des heiligen Landes! Den Rosenkranz, diese harmlose Waffe unserer Kreuzfahrer, hatten sich viele in riesigen Exemplaren um den Leib geschlungen, sogar Soldaten in voller Uniform, die mitmarschirten, trugen dieses Feldzeichen der heiligen Jungfrau über dem Waffenrock. Den Schluß bildete die Elite der Streiter der Kirche, die Seminaristen, wohl an zweihundert, und die höhere Geistlichkeit in vollem Ornat. Die junge Garde schritt fidel einher, wenn möglich noch andachtsloser als die Heerde, und es wollte mich bedünken, die Augen der angehenden Helden des Cölibats folgten mehr der Anziehungskraft einiger in schmucker Toilette Parade stehender Engländerinnen als der Madonna in der Felsgrotte. Nach einem allgemeinen Gebete zerstreute sich die Menge, um auszuruhen und den Bedürfnissen des Magens Genüge zu leisten. Soweit Platz vorhanden, nahm ein Theil unter einem einfachen für diesen Zweck hergestellten Strohdach an rohen Tischen Platz; andere füllten die unteren Räume der Kirche, vielen aber blieb nur der freie Himmel, unter dem sie denn auch während der Nacht campirten; der geringste Theil konnte in Lourdes selbst Quartier finden.

An interessanten Gruppirungen fehlte es nicht. Sehr gemüthlich berührte das patriarchalische Bild einer im Grase sich lagernden kleineren Pilgerschaar, in deren Mitte der alte geistliche Herr mit seinen Getreuen das frugale Mahl theilte, ein wohlthuender Gegensatz zu den im Sonnenscheine aristokratischer Familiengunst wiederstrahlenden Vollmondsgesichtern unter dem Dreispitz, die im Fremdenhôtel salbungsvoll neben der Frau Mama und den hübschen Beichtkindern an der Table d’hôte saßen und für dieselben das Tischgebet sprachen.

In der geräumigen Kirche waren die Beichtstühle massenhaft umlagert, wie auch an den Wallfahrtsorten Tausende von Hostien bei der Communion gereicht werden; die an so geheiligter Stätte empfangenen Sacramente sind von besonders nachhaltiger Kraft. Das Innere des im gothischen Stile erbauten Gotteshauses ist prächtig geschmückt; die zahlreichen Nischen mit ihren Seitenaltären strotzen von den einem Gelübde zufolge gewidmeten Kostbarkeiten, Täfelchen etc. Die nicht selten hervorschimmernden goldenen Epauletten und Ordenssterne der Ehrenlegion sprechen beredt eine traurige Sprache auf den Fremdling hinab. Ueber unseren Häuptern aber schweben in unendlicher Anzahl reich gestickte, zum Theil prachtvolle Fahnen als Andenken der großen Wallfahrten. Ihre Wappen und Namen weisen auf alle Gegenden Frankreichs und anderer katholischen Länder hin; nicht ohne Ueberraschung begrüßte ich die Farben der Vereinigten Staaten von Nordamerika, recht ostensibel wie ein Triumphzeichen neben der Kanzel aufgepflanzt – das stolze Sternenbanner, die Fahne der Freiheit im Staube zu Füßen des römischen Dogmas! Die zahlreichen Opferstöcke sind für den Pilger ein lebhaftes Memento, daß das Reich Gottes trotz den Worten des Stifters sehr von dieser Welt sei, und wie weit dieses fromme Erpressungssystem für den Peterspfennig, den Unterhalt der Kirche etc. geht, beweist der angeschlagene bischöfliche Erlaß, daß für die bescheidene

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_603.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)