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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Ein Unicum in Deutschland.
Bei deutschen Genossenschaftspionieren.


Wenn man auf der Berlin-Görlitzer Eisenbahn die langweiligen Sandebenen glücklich hinter sich hat und sich nach Durchfahrung des engen Einschnitts bei Ludwigsdorf durch den malerischen Anblick der Stadt Görlitz mit ihren mannigfaltigen Thürmen und dem gebirgigen Hintergrunde für die Entbehrungen der Fahrt entschädigt sieht, so wird das Auge hart vor der Einfahrt in den Bahnhof, falls man es nicht vorzieht, einen Blick nach rechts auf den schönbewaldeten berggekrönten Kegel der Landskrone zu werfen, durch einen in Ziegelrohbau aufgeführten mit Ladungsperron und Dampfesse versehenen umfangreichen Bau festgehalten, der sich auf einem dicht an die Bahn grenzenden Grundstücke erhebt.

Noch vor wenigen Jahren lag an dieser Stelle ein niedriger Hügel, der dem Auge die Aussicht auf die Stadt verwehrte. Der bergeversetzenden Thätigkeit der Eisenbahnbaumeister hat auch er weichen müssen, um mit seinen Erdmassen ein benachbartes Thal ausfüllen zu helfen, und nur an der entgegengesetzten Grenze des Grundstücks ist noch zu erkennen, daß hier erhebliche Abschachtungen stattgefunden haben. An seiner Stelle ist eine ebene Fläche entstanden, auf der sich jener große zweistöckige Ziegelrohbau erhebt – das neue Geschäftshaus des Waareneinkaufsvereins zu Görlitz.

Die Geschichte dieses Vereins, der unter den deutschen Consumvereinen seit einigen Jahren eine hervorragende Stellung einnimmt und mit der Errichtung dieses Gebäudes einen großen Schritt weiter in dieser Entwickelung gethan hat, zeigt einige Aehnlichkeit mit der der ehrlichen Pioniere von Rochdale, jener englischen Arbeitergenossenschaft, deren großartige Erfolge nicht wenig dazu beigetragen haben, die Einführung der Consumvereine in Deutschland zu ermöglichen.

Ein Vortrag über die Pioniere von Rochdale veranlaßte elf Görlitzer Arbeiter am 6. April 1861 zusammenzutreten, um nach dem Vorbilde ihrer englischen Standesgenossen durch wöchentliche Einlagen von einem Silbergroschen die Mittel zu gemeinsamem Ankauf von Waaren zu beschaffen, welche beim Einzelkauf erheblich theurer waren.

Eine Zehntel-Kiste Cigarren, zum Verbrauch auf den Sonntagsspaziergängen bestimmt, war der erste Ankauf, und da die Mitglieder bei Entnahme der Cigarren den in den Kaufmannsläden üblichen Detailpreis zahlten, so ergab sich ein hübscher Verdienst aus diesem „Engrosgeschäfte“. Dies ermunterte die Genossenschaft, den Ankauf noch weiter auszudehnen und neben den Luxusartikeln, Cigarren und Zucker, auch noch Brod, Seife und Streichhölzchen unter die regelmäßig geführten Waaren aufzunehmen.

Das Capital mehrte sich durch die Wocheneinlagen, sowie durch den Erlös aus dem Detailverkauf der Waaren zu höheren Preisen, und der in dem kleinen Vereine erfahrungsmäßig geführte Nachweis, daß sich die Einrichtungen der ehrlichen Pioniere von Rochdale auch auf Deutschland übertragen ließen, wo die Consumvereine zuerst keinen Boden fassen zu können schienen, führte der Genossenschaft aus dem Arbeiterstande bald neue Mitglieder zu.

Schon im Laufe des ersten Jahres war der Verein so gewachsen, daß die Errichtung eines Vertriebslagers als Nothwendigkeit erschien. Da jedoch die knappen Mittel die größte Sparsamkeit zur Pflicht machten, so begnügte man sich zunächst damit, in einem der alten Häuser der Rosenstraße, einer kleinen Nebenstraße der Altstadt, ein kleines dunkles Gewölbe zu miethen, in dem ein Mitglied täglich an einigen Stunden die Waaren vertrieb und das verkaufte Quantum in die Bücher der einzelnen Mitglieder eintrug, um die Vertheilung der Dividende nach Maßgabe der entnommenen Waaren zu ermöglichen. Da der Verein seine Waaren in kleinen Quantitäten bei den einheimischen Kaufleuten entnahm, so konnten die finanziellen Ergebnisse der solidesten Verwaltung auf wohlhabendere Personen einen Reiz nicht ausüben, um so weniger, da bei den hohen Preisen der Görlitzer Colonial- und Materialwaarengeschäfte Viele ohnehin ihre Waaren von auswärts billiger zu beziehen sich gewöhnt hatten. Die Entwickelung des Vereins konnte unter diesen Verhältnissen nur eine sehr langsam sein; ein Theil der Mitglieder trat wieder aus, da der Zusammenbruch eines anderen schlecht geleiteten Consumvereins sie ängstlich machte, und nur hundertundzehn hielten treulich aus.

Bis zum Herbst 1865 hatte der Verein ausschließlich aus Arbeitern bestanden, und ein Theil der Mitglieder war sogar der Ansicht, daß die Consumvereine ausschließlich für den Arbeiterstand bestimmt seien. Auf Rath des Dr. Bernhard Rickert, des leider zu früh verstorbenen begeisterten und thätigen Apostels des Genossenschaftswesens, schlossen sich die Freunde der Consumvereinsbestrebungen an den bestehenden Verein an, der dadurch einen erhebliche Zuwachs aus den wohlhabenden und gebildeten Kreisen erhielt. Die Neueingetretenen, die ihr Capital, ihre Intelligenz, ihre Thatkraft der Genossenschaft zur Verfügung stellten, begegneten bei Einigen dieser Exclusiven deutlich erkennbarem Mißtrauen, und als durchgreifende Reformen der schwerfälligen Einrichtungen vorgenommen wurden, schied der bisherige Leiter mit einer Anzahl seiner Getreuesten aus, um wieder einen reinen Arbeiterverein zu bilden, der indeß nach kurzer Zeit eingegangen ist, weil die Meisten es vorzogen, in den alten Verein zurückzukehren.

Innerhalb des Vereins entspann sich nun ein reger Wetteifer in Förderung der Vereinszwecke. Allen voran leuchtete Dr. Rickert, der unermüdlich thätig seine reichen Erfahrungen auf dem Gebiete des Consumvereinswesens dem Waareneinkaufsvereine zu Gute kommen ließ und mit seiner Begeisterung auch Andere erfüllte, namentlich einen jungen Görlitzer, Otto Bertram, der auf seiner Wanderschaft mit ihm zusammengetroffen war und jetzt von ihm dem aufblühenden Vereine als Geschäftsführer zugeführt wurde und bis heute die Seele des Vereins ist. Aber auch andere der Neueingetretenen suchten dem Vereine durch Auffinden von Bezugsquellen, durch Werbung neuer Mitglieder, durch Verbreitung richtiger Ansichten über das Wesen der Consumvereine Nutzen zu schaffen.

Einen durchgreifenden Erfolg dieser gemeinsamen Bemühungen nahm man indeß erst dann wahr, als im letzten Quartale 1866 unter Aufgabe des bis dahin innegehaltenen englischen Princips der Beschluß gefaßt wurde, bei strengster Festhaltung der Baarzahlung bei Entnahme der Waare – einer für den Verein wie für die Mitglieder gleichwichtigen Norm, deren Einführung in den allgemeinen Geschäftsverkehr ein mächtiger Hebel unserer Industrie sein würde – den Verkaufspreis so festzusetzen, daß der Zuschlag nur reichlich die Verwaltungskosten deckte. Der Verein hatte nämlich die Erfahrung gemacht, daß das Bestreben, hohe Dividenden zu vertheilen, dazu führen mußte, nahezu dieselben Preise zu halten, wie andere Verkäufer, und daß die Gutschrift der meist nicht bedeutenden Dividende, über die ohnehin den Mitgliedern nicht die freie Verfügung zustand, nur geringen Anreiz zur Entnahme von Waaren aus den Vereinsläden bildete. Man glaubte auf diese Weise einmal dem Vereine zu nützen, indem man ihn in den Stand setzte, in größeren Posten einzukaufen, worin die Hauptbedeutung des Waarengeschäfts liegt, und zugleich die Vortheile dieses neuen Princips noch dem übrigen Publicum zuzuwenden, indem man die Kaufleute nöthigte, nun auch ihrerseits mit den Preisen herunterzugehen.

Bei der Annahme des neuen Princips wurde es nun nothwendig, für die Vertheilung des Gewinns eine neue Norm festzustellen, da eine Controle über das Quantum der entnommenen Waaren aufhörte. Man wählte die Vertheilung nach der Kopfzahl, um nicht die Mitglieder mit höheren Einlagen zu sehr zu bevorzugen, und erhöhte, um die darin liegende Unbilligkeit einigermaßen zu mildern, den Zinsfuß für die Einlagen der Mitglieder auf 62/3 %, wodurch man einen neuen Anreiz zum Sparen geben wollte. Jedes Mitglied, das ein volles Jahr hindurch seinen Beitrag von 10 Pfennigen pro Woche, also von 5,20 Mark für das Jahr gezahlt, oder einen Mitgliederantheil von 75 Mark vollgezahlt hat, ist dividendenberechtigt.

Die bisherigen Erfolge des Vereins haben den Vertheidigern des neuen Princips Recht gegeben.

Ende 1865 betrug die Zahl der Mitglieder 197, am Schlusse des Geschäftsjahres 1875/76 2496; das Mitgliederguthaben ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_600.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)