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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


in ihm regt. Doch das giebt sich bei dem öfteren Zusammensein. Wie findest Du sein Aeußeres? Mich dünkt, ein wenig hat er sich doch zu seinem Vortheil verändert.“

„Ich finde ihn noch gerade so abstoßend wie früher,“ erklärte die junge Gräfin. „Ja, mehr noch, denn damals war der Eindruck seiner Persönlichkeit ein unbewußter, und jetzt habe ich ihn beinahe in Verdacht, daß er abstoßen will. Aber trotzdem – ich weiß nicht, worin es liegt; vielleicht darin, daß er die Stirn jetzt so frei und offen trägt – aber er verliert nicht mehr gegen Leo.“

Die Fürstin schwieg betroffen. Die gleiche Bemerkung hatte sich ihr vorhin aufgedrängt, als die beiden Brüder neben einander standen. So unbestritten die Schönheit des jüngeren war und so wenig der ältere auch nur den geringsten Anspruch darauf machen konnte, er gerieth dennoch nicht in Gefahr, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Mochte man, wie Gräfin Morynska, seine Erscheinung immerhin unsympathisch und abstoßend finden, es lag etwas darin, das trotz alledem seinen Platz behauptete, und auch die Mutter sah sich genöthigt, das zuzugeben.

„Solche Hünengestalten haben immer einen großen Vortheil voraus,“ meinte sie, „sie imponiren beim ersten Anblick, aber das ist auch Alles. Geist und Charakter darf man niemals dahinter suchen.“

„Niemals?“ fragte Wanda mit eigenthümlicher Betonung. „Bist Du dessen so ganz sicher?“

Die Fürstin schien diese Frage sehr seltsam und überflüssig zu finden, denn sie blickte ihre Nichte erstaunt an.

„Wir wissen Beide, welchen Zwecken Wilicza noch dienen soll,“ fuhr diese mit unterdrückter Heftigkeit fort, „und da wirst Du mir zugeben, liebe Tante, daß es sehr unbequem und gefährlich wäre, wenn es Deinem Sohne urplötzlich einfiele, ‚Geist‘ zeigen zu wollen. Sei vorsichtig! Mir will diese Ruhe und vor allen Dingen diese Stirn nicht gefallen.“

„Mein Kind,“ sagte die ältere Dame mit ruhiger Ueberlegenheit, „willst Du es nicht mir überlassen, für den Charakter meines Sohnes einzustehen, oder traust Du Dir mit Deinen zwanzig Jahren eine größere Urtheilsfähigkeit zu, als ich sie besitze? Waldemar ist ein Nordeck – und damit ist Alles gesagt.“

„Und damit hast Du Dein Urtheil über ihn von jeher abgeschlossen. Er mag das Ebenbild seines Vaters sein in jedem Zuge, die Stirn aber mit der scharfgezeichneten blauen Ader an den Schläfen hat er von Dir – hältst Du es denn gar nicht für möglich, daß er sich auch einmal als Sohn seiner Mutter zeigt?“

„Nein!“ erklärte die Fürstin in einem so herben Tone, als beleidige sie diese Idee förmlich. „Was ich von meiner Natur vererben konnte, das besitzt Leo allein. Sei nicht thöricht, Wanda! Du bist gereizt durch das Benehmen Waldemar’s gegen Dich, und ich gebe zu, daß es nicht sehr zuvorkommend war, aber Du mußt darin wirklich seiner Empfindlichkeit Rechnung tragen. Wie Du jedoch dazu kommst, aus seinem zähen Festhalten an dem alten Grolle auf einen wirklichen Charakter zu schließen, das begreife ich nicht; mir beweist es das Gegentheil. Jeder Andere wäre Dir dankbar dafür gewesen, daß Du ihm über eine halbvergessene peinliche Erinnerung hinweghelfen wolltest, und hätte mit der gleichen Unbefangenheit der Braut seines Bruders –“

„Weiß Waldemar bereits – –?“ unterbrach sie die junge Gräfin.

„Gewiß, Leo selbst theilte es ihm mit.“

„Und wie nahm er die Nachricht auf?“

„Mit der grenzenlosesten Gleichgültigkeit, obgleich ich ihm in meinen Briefen niemals eine Andeutung davon gemacht habe. Das ist’s ja eben. Mit seiner einstigen Schwärmerei für Dich ist er sehr schnell fertig geworden – davon haben wir Proben, an die vermeinte Beleidigung aber klammert er sich noch mit dem ganzen Eigensinn des ehemaligen Knaben. Willst Du vielleicht, daß ich eine solche Natur als ‚Charakter‘ gelten lasse?“

Wanda erhob sich mit unverkennbarer Gereiztheit. „Durchaus nicht, aber ich fühle keine Neigung, mich diesem Eigensinn noch länger auszusetzen und deshalb wirst Du es entschuldigen, liebe Tante, wenn wir Wilicza verlassen. Ich wenigstens bleibe auf keinen Fall hier – und Papa läßt mich schwerlich allein abreisen; wir fahren noch in dieser Stunde.“

Die Fürstin protestirte vergebens; sie mußte wieder einmal die Erfahrung machen, daß ihre Nichte es ebenso gut wie sie selbst verstand, ihren Willen durchzusetzen, und daß Graf Morynski den Wünschen seiner Tochter gegenüber „grenzenlos schwach“ war. Trotz des wiederholten Wunsches der Schwester und der sichtbaren Verstimmung Leo’s blieb es bei der Anordnung, die Wanda getroffen hatte, und eine halbe Stunde später fuhr der Wagen vor, der sie und ihren Vater nach Rakowicz zurückbrachte.


Einige Wochen waren vergangen, ohne daß die Ankunft des jungen Gutsherrn irgend etwas Nennenswerthes in Wilicza geändert hätte. Man merkte seine Anwesenheit kaum, denn er war, wie die Fürstin richtig vorausgesehen, nur selten im Schlosse zu finden und streifte statt dessen tagelang in den Wäldern und überhaupt in der Umgegend umher. Die alte Jagdleidenschaft schien ihn mit voller Macht wieder ergriffen zu haben und alles Andere in den Hintergrund zu drängen. Nicht einmal bei Tische erschien er regelmäßig. Seine Streifereien führten ihn gewöhnlich so weit, daß er genöthigt war, auf irgend einer Försterei oder einem Pachthofe einzusprechen, und dies geschah in der That sehr häufig; kam er dann spät und ermüdet nach Hause, so brachte er die Abende meist auf seinen Zimmern mit dem Doctor Fabian zu und erschien nur, wenn er mußte, in den Salons seiner Mutter.

Leo hatte es schon nach den ersten Tagen aufgegeben, den Bruder zu begleiten, denn es ergab sich in der That, daß sie beide die Jagd auf sehr verschiedene Weise trieben. Der junge Fürst zeigte sich auch hier, wie in allen anderen Dingen, feurig, verwegen, aber keineswegs ausdauernd; er schoß, was ihm gerade vor den Lauf kam, scheute im Nachsetzen kein Hinderniß und fand ein entschiedenes Vergnügen daran, wenn die Jagd eine gefährliche Wendung nahm; Waldemar dagegen ging mit zäher, unermüdlicher Ausdauer dem Wilde tagelang nach, das er sich gerade ausersehen hatte, ohne sich um Essens- oder Schlafenszeit zu kümmern, und legte sich dabei Strapatzen auf, denen eben nur sein eiserner Körper gewachsen war. Leo fing bald an, das ermüdend, langweilig und im höchsten Grade unbequem zu finden, und als er vollends die Entdeckung machte, daß sein Bruder das Alleinsein unbedingt vorzog, überließ er ihn mit Vergnügen sich selber.

Auf diese Art konnte von einem eigentlichen Zusammenleben mit der Mutter und dem Bruder gar keine Rede sein, obgleich man sich täglich sah und sprach. Die starre Unzugänglichkeit Waldemar’s war dieselbe geblieben, und seine Verschlossenheit im engeren Verkehr hatte eher zu- als abgenommen. Weder die Fürstin noch Leo waren ihm nach wochenlangem Zusammensein auch nur einen Schritt näher gekommen als am Tage seiner Ankunft, doch dessen bedurfte es auch nicht. Man war zufrieden, daß der junge Gutsherr so vollständig den gehegten Voraussetzungen entsprach und in gesellschaftlicher Hinsicht sogar eine Fügsamkeit bewies, die man gar nicht erwartete. So hatte er sich zum Beispiel durchaus nicht geweigert, den Gegenbesuch in Rakowicz zu machen, und der Verkehr zwischen den beiden Schlössern war lebhafter als je; Graf Morynski kam mit seiner Tochter sehr oft nach Wilicza, wenn sie den Herrn desselben auch meistentheils nicht antrafen. Das Einzige, was der Fürstin bisweilen Aerger verursachte, war das Verhältniß zwischen ihrem ältesten Sohne und Wanda, das sich durchaus nicht ändern wollte; es blieb kalt, gezwungen, sogar feindselig. Die Mutter hatte es einige Male versucht, vermittelnd einzutreten, aber ohne jeden Erfolg; sie gab es schließlich auf, die beide „Trotzköpfe“ von ihrem Eigensinn abzubringen. Die ganze Sache war ja überhaupt nur insofern von Wichtigkeit, als sie nicht etwa den Anlaß zu einem Bruche geben durfte, und das geschah durchaus nicht. Waldemar zeigte dem Grafen gegenüber so viel Verbindlichkeit, wie sein unverbindliches Wesen nur irgend zuließ, und that im Uebrigen seinen sämmtlichen Verwandten den Gefallen, sich ihnen so viel wie möglich zu entziehen.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_596.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)