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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


No. 36.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Es war in den Vormittagsstunden des nächsten Tages. Die Gäste des Schlosses, die zum größten Theil dort übernachtet hatten, waren bereits in aller Frühe wieder abgefahren, nur Graf Morynski und seine Tochter befanden sich noch in Wilicza. Da die Ankunft des jungen Gutsherrn sie nun doch überrascht hatte, so erforderte es die Artigkeit, ihn vor der Abreise wenigstens noch flüchtig zu begrüßen, der Graf hielt es aber bei der vollständigen Fremdheit, mit der er seinem Neffen gegenüberstand, für angemessen, diesen in den ersten Stunden des Wiedersehens ausschließlich der Mutter zu überlassen, und Wanda ihrerseits hatte noch weit weniger Eile, das Recht der Verwandtschaft geltend zu machen.

Die Fürstin war allein mit ihren beiden Söhnen; sie saß auf ihrem gewöhnlichen Platze im grünen Salon, Waldemar ihr gegenüber, während Leo neben dem Sessel des Bruders stand – dem äußeren Anscheine nach eine ganz friedliche und trauliche Familiengruppe.

„Nein, Waldemar, das kann ich Dir wirklich nicht verzeihen,“ sagte die Fürstin in vorwurfsvollem Tone. „Beim Administrator abzusteigen! Als ob Dein Schloß Dir nicht jede Minute zu Gebote stände, als ob es mir nicht eine Freude gewesen wäre, Dich meinen Gästen vorzustellen! Ich wäre beinahe versucht, das, was Du eine Rücksicht für mich nennst, als das Gegentheil aufzufassen. Den Vorwand der Störung lasse ich unter keinen Umständen gelten.“

„Nun, so laß’ wenigstens meine Abneigung gelten, so unmittelbar nach der Ankunft in einen mir völlig fremden Kreis zu treten,“ erwiderte Waldemar. „Ich war wirklich nicht in der Stimmung dazu.“

„Hegst Du noch immer die alte Antipathie gegen alles, was Gesellschaft heißt? Da werden wir den Verkehr in Wilicza allerdings einschränken müssen.“

„Doch nicht etwa meinetwegen? Ich bitte Dich, in diesem Punkte auf mich gar keine Rücksicht zu nehmen. Nur wirst Du es entschuldigen müssen, wenn ich nicht allzu oft in Deinen Salons erscheine. Ich habe zwar gelernt, mich den gesellschaftlichen Nothwendigkeiten zu fügen, wenn es unbedingt sein muß, aber unbequem bleibt es mir immer.“

Die Fürstin lächelte; diese Neigung, die sie ja längst kannte, stimmte vollständig mit ihren Wünschen überein. Ueberhaupt zeigte ihr gleich diese erste Zusammenkunft, daß ihr Urtheil über Waldemar ein richtiges gewesen und seine Natur in den Grundzügen die gleiche geblieben war; selbst sein Aeußeres hatte sich nicht allzu sehr verändert. Seine hohe Gestalt kam freilich jetzt mehr zur Geltung, weil die Haltung eine bessere war, überragte er doch sogar den schlanken, hochgewachsenen Bruder, auch das Unreife, Unfertige des Jünglings hatte der vollen Männlichkeit der Erscheinung Platz gemacht, freilich ohne daß die letztere darum sympathischer geworden wäre. Diese unschönen und unregelmäßigen Züge konnten nun einmal nicht anziehend sein, wenn auch das frühere Ungestüm, das sie so oft entstellte, jetzt einem kalten Ernst gewichen war. Nur eins gereichte Waldemar’s Antlitz entschieden zum Vortheil; das blonde Haar, „die ungeheuere gelbe Löwenmähne“, wie Wanda es spottweise nannte, war in seiner gar zu üppigen Fülle und Verwilderung beschränkt worden; es bedeckte noch immer dicht und voll das Haupt, ließ aber, zurückgestrichen, Stirn und Schläfe frei, und es war unleugbar eine schöne und mächtige Stirn, die sich da über den finsteren Augen wölbte – der einzige Vorzug, den die Natur dem jungen Manne geliehen. Auch die rücksichtslose Schroffheit seiner Haltung zeigte sich einigermaßen gemildert; man sah, daß er sich jetzt wenigstens ohne Zwang in den gesellschaftlichen Formen bewegte und ihnen Rechnung zu tragen wußte, damit schienen aber auch die Errungenschaften der Reife- und Universitätsjahre zu Ende zu sein. Eine Erscheinung für den Salon war Waldemar Nordeck trotz alledem nicht, seine Haltung hatte etwas so Abweisendes, so wenig Verbindliches, seinem ganzen Wesen war der Stempel finsterer Verschlossenheit so deutlich aufgeprägt, daß wohl Niemand leicht in die Lage kam, sich zu ihm hingezogen zu fühlen.

Der Gegensatz zwischen ihm und seinem Bruder trat jetzt noch schärfer hervor als ehemals. Auch Leo war nicht mehr der knabenhafte Jüngling von siebenzehn Jahren, aber wenn er schon damals dem alten Witold das Bekenntniß entriß, der Sohn seiner Gegnerin sei doch „ein bildhübscher Junge“, so zeigte er jetzt die ganze Schönheit seines Volkes, die, wo sie überhaupt vorhanden ist, auch meist in seltener Vollendung aufzutreten pflegt. Etwas kleiner als Waldemar, aber weit schlanker als dieser, besaß er im vollsten Maße all die Vorzüge, die dem älteren Bruder fehlten, den Adel der Züge, die mehr als je die sprechende Aehnlichkeit mit der Mutter verriethen, die prachtvollen dunklen Augen, in denen es heiß aufflammte bei jeder Erregung, das schwarze, leicht gelockte Haar, das sich weich und glänzend um die Stirn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_593.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)