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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


nicht hier?“ rief ein exaltirter Wiener recht bezeichnend aus.[1] Bodenstedt, , Wilhelmj, Liszt, Makart, Hellmesberger – ich greife auf’s Gerathewohl in’s volle Leben hinein und an allen Fingern sitzen die Namen – Rothschild (der Chef der Wiener Firma).

Apropos, dem Letztgenannten soll bei der Aufführung der „Walküre“ ein Malheur passirt sein. Er kam zu spät und mußte den ganzen ersten Act draußen bleiben, denn sowie die zweite Fanfare geblasen ist, werden die Eingangsthüren geschlossen, damit die Zuschauer durch Nichts mehr in ihrer Illusion gestört werden, damit ihnen kein Ton, kein Wort verloren gehe. Die Freiheit hört auf; die Gleichheit beginnt. Uebrigens ist dies eine neue nachahmungswerthe Strenge.

Mit dem Drama „Siegfried“ – – – (ich muß hier eine Parenthese machen und bemerken, wenn ich es nicht bereits gethan habe, daß das Wort „Oper“ für die Werke Wagner’s gar nicht in Anspruch genommen wird, weshalb denn auch billiger Weise manches müßige Parteigezänk ohne Gegenstand wird) – also mit dem Drama „Siegfried“ verschwindet immer mehr Alles, was an den Charakter des Liedes nur noch erinnern könnte, des Liedes oder der selbstständigen „Melodie“. Die Sänger müssen streng als Schauspieler auftreten; der Gesang wird zur gesungenen Rede, welche wie die Sprache den Tanzrhythmus der Melodie nicht mehr gestattet. Der Gesang bedeutet das Pathos der Rede. Faßt man diese Werke von diesem Gesichtspunkte auf, so haben wir eine große culturgeschichtliche Erscheinung vor uns: die Umgestaltung des Drama. Es wird uns dann leichter, die Harmonie schön zu finden, als wenn wir den Begriff der Oper nicht fahren lassen. Leider wird es nur den Parteien auch in der Kunst leichter zu streiten, als sich ruhig zu verständigen.

Die musikdramatischen Effecte im „Siegfried“ sind großartig, aber sie strengen die Nerven des Zuschauers auf’s Höchste an. Man braucht nur die Herren unseres Berufs der Feder hier anzusehen. Das Schreiben wird ihnen meistens schwer, denn die Hand zittert vor Ueberspannung der Nerven. Der Styl, den die „Paulusse“ des Meisters in ihren Episteln schreiben, gestaltet sich schwülstig; was die „Saulusse“ in die Welt schicken, ist eckig und holperig, und ich behaupte dreist, erst nach Monden wird es möglich sein, beiderseitig eine wirkliche Stellung zu der Erscheinung von Bayreuth zu nehmen.

Denken Sie sich z. B. den „Gesang des Waldvögleins“ im „Siegfried“, den der Held in Folge eines eingenommenen Tropfens Drachenblut versteht. Ein gesungenes Zwitschern mit einer orchestralen Begleitung, das Sie förmlich träumerisch macht. Vorher aber haben Sie die Ausgeburt einer hitzköpfigen decorativen Phantasie gesehen. Einen Kampf mit einem Drachen! Das Vieh kommt wirklich auf die Bühne, und die mächtige Stimme des Herrn von Reichenberg, der durch ein Sprachrohr die Worte, welche der Drache zu sagen hat, singt, dröhnt durch das Haus und macht uns, was der biedere Pappdrache nicht im Stande wäre, „gruselig“. Dann die Geistererscheinung der Mala, die dem Wotan den Untergang der Götter verkündigt. Am Schlusse wieder die Feuerlohe aus der „Walküre“. Siegfried dringt durch die Gluthen, erblickt die schlafende Brunhilde und – „lernt das Fürchten“. Die Schönheit des Weibes macht den Helden zaghaft. Die Fülle von Motiven und Reminiscenzen, welche jetzt aus dem unterirdischen Orchester zum Ausbruch kommen, wie aus einem Vulcane, der klingende Blumen auswirft, ist unbeschreiblich großartig, aber sie ist ein Phänomen, eine Elementarerscheinung, über welche nur die Eitelkeit ein absolutes Urtheil zu fällen sich vermessen kann.

17. August.     

Wie es scheint, geht es bei Richard Wagner nicht ohne eine Schlußdissonanz ab.

Nachdem das letzte Drama des Cyclus, „Götterdämmerung“, mit einem Beifalle aufgenommen war, wie es bei einem so unerhört auserlesenen Publicum noch nie dagewesen ist, sprang am Schlusse der Aufführung ein Enthusiast auf seinen Sitz und forderte die Versammlung auf, dem Meister ein „dreifach donnerndes Hoch“ zu bringen. Was thun? Obgleich Wagner sehr tactvoll erklärt hatte, es würden keine persönlichen Auszeichnungen gewünscht, damit der Rahmen der Kunst völlig sachlich bleibe, „donnerten“ wir drei Mal los, und dieser moralische Zwang, den ich durchaus mißbillige, und mit mir wohl die meisten der Anwesenden, brachte den Meister zum Erscheinen – im Paletot, ganz einfach. Er dankte für die Theilnahme, aber es entschlüpften ihm zum Schlusse die Worte: „Was wir können, haben Sie gesehen. Es liegt in Zukunft an Ihnen, ob Sie eine Kunst haben wollen.“

Das war stark! So generell zu sprechen, als ob bisher der Begriff Kunst nur eine Fabel gewesen wäre! Das Auditorium war geradezu verblüfft, als der Meister wieder abtrat. Zum Glück befanden sich im Hause eine Anzahl Jünglinge, die glaubten, sie brauchten sich für ihr Geld Nichts entgehen zu lassen. Die Bahn des Hervorrufens schien gebrochen und die Nimmersatten machten jetzt einen recht niedlichen Lärm, daß man sich in die italienische Oper versetzt glaubte. „Alle!“ „Capellmeister Hans Richter!“ jodelte es durch den Saal. Aber es kam keiner der Gerufenen, und nachdem der See zehn Minuten „gerast“ hatte, ohne sein „Opfer“ zu finden, floß er in’s Freie.

Meine Mißstimmung ist heute zu groß, als daß ich wieder die Nacht durch schreiben könnte. Der decorative Theil des Drama, auf den Wagner ein so großes Gewicht legt, daß er böse wird, wenn wir ihn für nicht ebenso wesentlich halten, wie seine Dichtung und Musik und wie den Gesang – dieser decorative und maschinistische Theil hatte heute Momente, die erbarmungswürdig waren und auf keiner Bühne vorkommen dürften.

Lassen Sie mich also ein wenig „Mosaik“ plaudern!

Ich habe heute auf dem Corso des artistischen Calvarienberges recht herzlich lachen müssen. Denn das Bayreuther Bühnenfestspiel wird ein Resultat haben, das sich in die Worte zusammenfassen läßt: „Keine Heiserkeit mehr!“ Wer ist jener hochgewachsene elegante blonde Herr? Sänger und Sängerinnen umgeben ihn. Er ist ein Chemiker aus Hamburg und hat – „Bronchial-Pastillen“, glaube ich, heißen die Dinger – erfunden. „Also auch hier ist man nicht sicher vor Johannes Hoff!“ rief ich aus. Da kam ich aber schön an. Niemann, Betz, Siehr, Nachbaur, Franz Abt, Clara Ziegler und unzählige andere Celebritäten schwören „den heiligen Schwur der Rache“, daß die Dinger probat sind, und – gebrauchen sie. Nun, meinetwegen! Der Chemiker ist ein Gentleman; er ist gern gesehen in allen Kreisen unserer Gesellschaft. Franz Liszt soll sich anschicken, der Erfindung seinen Segen zu geben; der Meister soll sie als neues Moment für das Gedeihen der Zukunftsmusik prüfen wollen. Unser Zukunftsdrama-Hofchemiker regalirt die Sänger und Sängerinnen gratis, und mein unverbesserlicher Unglaube, die Erkenntniß, daß ich es nie dahin bringen werde, weder das hohe noch das tiefe C singen zu müssen, treibt mich nun zu der Erklärung: Schön schmecken die Pastillen gerade nicht. –

Da ich heute erfuhr, daß mein Bonmot vom „artistischen Calvarienberge“ in Aller Munde ist, so gebietet es mir das Gerechtigkeitsgefühl, diesem Witze die Spitze abzubrechen. Wagner konnte sein Theater an keinen andern Ort bauen. Der Schloßgarten war ihm zur Verfügung gestellt, allein er brauchte fünfundvierzig Fuß Tiefe zu dem Raume unter der Bühne und man stößt hier bei fünfundzwanzig Fuß auf Wasser. Sogar auf dem „Calvarienberge“ mußten Bergmannsarbeiten vorgenommen werden, um das Grundwasser abzuleiten. Dies zur Steuer der Wahrheit. – Aber noch ein anderes Malheur ist dem Meister hier passirt, ein Malheur, das einen reizenden Stoff zu einer Causerie auf der Bühne geben würde, wenn die Bühne nur nicht stets ein theoretisches Heirathsbüreau wäre. Ich kaufte mir heute die Namensliste der mitwirkenden Kräfte und fand auf der Hausflur einen Briefkasten mit der lateinischen Inschrift „Richard Wagner“. Nun war dieser „Richard Wagner“ der Inhaber einer alten Kaufmannsfirma, und die Briefe der Kunst – da der Meister alle Titulaturen abwirft – gingen mit postalischer Gewissenhaftigkeit bis vor Kurzem in heilloser Confusion an die Adresse des Kaufmanns.

Aber die Uhr zeigt schon wieder Mitternacht. Es ist Zeit, daß ich soupire. Also morgen mehr über die „Götterdämmerung“!

Wilhelm Marr.
  1. Eine treffende Antwort auf diese Frage findet der Wiener unseres Herrn Referenten in dem geistvollen Artikel von Karl Frenzel in Nr. 389 der „National-Zeitung“.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_586.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)