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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

so heißblütigen Mannes, wie Wagner, hineindenken, der als musikalischer und dichterischer Triumphator eine so starke Verlustliste bei der decorativen Waffengattung zu registriren hat.

Ganz Bayreuth war bis Mitternacht glänzend und geschmackvoll illuminirt. Ein funkelnder Sternenbaldachin wölbte sich über die Landschaft. Raketen stiegen zur Feier des Tages in die Höhe, und vom Himmel wurde das Feuerwerk mit zahlreichen fallenden „Sternschnuppen“ beantwortet. Die Blumen dufteten aus den Gärten lieblich. Es war eine „Götternacht“, und „Wotan“ konnte sich freuen. Wotan-Wagner aber, der dreißig Jahre seines Lebens an das Werden dieser Götternacht gesetzt hatte, konnte wohl mürrisch und verstimmt sein, wo die alten nordischen Götter von – Theaterarbeitern um ihre Illusionskraft gebracht werden können.

Wilhelm Marr.




Am Nilmesser und im Harem.

Kein Land verdient wohl mehr den Namen eines Wunderlandes als Aegypten; kein Fluß eignet sich mehr dazu, der Abgott eines Volkes zu werden, als der Nil. Wer dem wundersamen Spiel seines Steigens und seiner Ueberfluthung zugesehen, kann nicht umhin, dieses maßvolle, regelmäßige, innerhalb der gezogenen Schranken sich emsig fortbewegende Walten, mit einem Worte: die allmächtige Kraft der Natur zu bestaunen.

„In Lebensfluthen, im Thatensturm
Wall’ ich auf und ab,
Webe hin und her.
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben.
So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und webe der Gottheit lebendiges Kleid.“

Haben wohl von den zwanzig Millionen, die diesen Donnerspruch des Erdgeistes in „Faust“ gelesen, zwanzig Erdensöhne den Sinn desselben gefaßt? Wenn diese scheinbar so compacte Erde am Ende nichts Anderes als ein Luftbild, die Natur mit ihrer tausendfachen Erzeugung und Zerstörung blos der Wiederschein unserer inneren Kraft, die Phantasie unserer Träume oder das lebende, sichtbare Gewand Gottes wäre, wie es Goethe’s Erdgeist nennt!

Ich stand auf der Brücke von Ghesireh, als diese Gedanken in meinem Gehirn kreuzten – unter mir rollten die gelben Fluthen des Nils langsam dem Meere entgegen. Wahrlich, es waren seltsame Gedanken für ein atheistisches Kind dieser jetzt so atheistischen Welt. Indeß ist das Wunder der jährlichen Ueberfluthung des Nils so groß, es entfaltet sich so still, so majestätisch, so ohne alle menschliche Hülfe, daß der Mensch vor dieser unsichtbaren allmächtigen Triebfeder fast die Kniee beugen möchte und sich einer gewissen Scham über sein eigenes so winziges Schaffen nicht erwehren kann. Davon überzeuge sich der Leser durch Nachstehendes selbst!

Nicht die labyrinthischen Mumienkatakomben, wo ganze Geschlechter in ewigem Schlafe ruhen, nicht die großartigen Tempel, nicht die im Schutte noch majestätischen Paläste der Pharaonen, die Pyramiden im Todtenfelde von Memphis bilden das größte Wunder dieses Wunderlandes. Diese Ruinen sind sämmtlich von einem geheimnißvollen Schleier umhüllt, der zwar auf jedes poetische Gemüth einen großen Zauber ausüben muß, aber dennoch dem weit nachsteht, den der alte heilige Nil, der Schöpfer, Erhalter und Ernährer Aegyptens besitzt, ja Schöpfer, denn das Nildelta wurde einzig und allein durch die allbefruchtenden Anschwemmungen des Nil gebildet, der die einstige weite Bucht zwischen den Hügelzügen der Libyschen und den Bergen der arabischen Wüste mit culturfähigem Schlamm ausfüllte, diese Ausfüllung noch fortwährend vergrößert und gegen das Mittelmeer hin ausdehnt. Die jährlichen im Hochlande Abessiniens, sowie in den Tropengegenden des inneren Afrika niedergehenden periodischen Regen bedingen ein Steigen des Stromes in seinem ganzen Laufe bis zum Meere. In Kairo wird das erste Steigen des Nil erst zu Anfang Juli bemerkbar. Von dieser Zeit an beschäftigt sich das ganze Land mit dem Flusse, denn durch ihn und mit ihm lebt Aegypten; er ist die Lebensader des Landes, deren Pulsschläge nur ein klein wenig zu stark oder zu schwach zu sein brauchen, um eine ganze Bevölkerung in Noth und Elend zu versetzen.

Bei so bewandten Umständen kann es uns nicht wundern, daß die alten Aegypter dem Flusse die höchste Vergötterung zollten, daß Sie alljährlich den ihnen als Vorbote der Ueberschwemmung geltenden Stern Sirius mit großer Bangigkeit beobachteten, daß sie die zu Ehren der Flußgottheit abgehaltenen religiösen Feste mit zaghafter Genauigkeit innehielten, im Glauben, die geringste Vergessenheit könnte den Gott erzürnen und ein Ausbleiben des Steigens der Gewässer mit sich führen. Was Wunder, wenn die Aegypter in der Verehrung des heiligen Flusses so weit gingen, daß sie ihm das kostbarste der Opfer, ein Menschenleben, weihten und alljährlich eine mit Geschmeide und werthvollen Gewändern geschmückte Jungfrau in seinen Wellen begruben.

Das in alten Zeiten mit so vieler Feierlichkeit begangene Fest des Nilsteigens ist zwar im Laufe der Zeit sehr heruntergekommen, aber es ist noch immer das größte nationale Fest Aegyptens, welches sich von den übrigen arabischen Volksfesten darin unterscheidet, daß es von der ganzen Bevölkerung, ohne Religionsunterschied, von Mohamedanern, Kopten und Juden mit gleich großer Freude gefeiert wird.

Das erste Fest fällt auf den 17. Juni. Es ist wohl kaum nöthig zu erwähnen, daß das Steigen des Nils trotz aller Regelmäßigkeit nicht jedes Jahr am nämlichen Tage, zur nämlichen Stunde bemerkbar ist; doch die Araber glauben, daß der Fluß mittelst eines vom Himmel fallenden wunderthätigen Tropfens Wasser alljährlich in der Nacht des 17. Juni zu steigen beginne. Die Einwohner Kairos und die der benachbarten Ortschaften pflegen diese Nacht am Ufer des Nils, entweder in den längs dem Flusse stehenden Häusern, oder unter Gottes freiem Himmel zu verbringen, und zwar unter Spielen, Kaffeetrinken und Geschichten-Erzählen. Der mohamedanische Theil der Einwohnerschaft macht gewöhnlich in dieser Nacht einen Abstecher nach dem Bulak gegenüberliegenden Dorfe Imbabi, wo einer der heiligsten Heiligen Kairos, nach welchem der Ort genannt ist, nämlich Ismail Imbabi, begraben liegt, an dessen Todestag, der mit der Lelet-en-Noctu (Nacht des Tropfens) zusammentrifft, Koranlesungen und religiöse Gebete und Tänze abgehalten werden.

In dieser Nacht pflegen die Aegypter, namentlich die Aegypterinnen, ein Stück Teig in eine Schüssel voll Wasser zu legen und diese außerhalb des Fensters zu stellen. Hat der Teig am nächsten Morgen Sprünge, so prophezeit man ein günstiges Steigen des Nils, hat er aber keine, so wird das Entgegengesetzte angenommen.

Von Anfang Juli an wird die Höhe des Nil täglich in allen Zeitungen veröffentlicht; alle Ministerien und Gouvernementsbureaus werden jeden Morgen von dem Wasserstand in Kenntniß gesetzt. Privatleuten wird die Nilhöhe durch eigens dazu angestellte Ausrufer verkündet, welche jeden Morgen auf den Gassen und in den Höfen der Vornehmeren den Stand des Wassers proclamiren. Diese Ausrufer werden Muneddi-en-Nil genannt. Der Muneddi, der alle Morgen in meinen Hof zu kommen pflegte, war ein stattlicher Aegypter, schön gebaut, mit edlen Gesichtszügen, in die schöne ägyptische Tracht gekleidet. Weil er blind war, stützte er sich auf die Schulter des ihn begleitenden Knaben. Es machte mir stets Freude, ihn in seiner königlichen stolzen Haltung durch den Thorweg schreiten zu sehen und seinen gewohnten monotonen und dennoch nicht reizlosen Singsang zu hören. Jeder Muneddi hat einen kleinen Knaben bei sich, der mit ihm den üblichen eigentümlichen Zwiegesang absingt.

Die Verkündigungen der Muneddi dauern gegen fünf Wochen. Wenn der Nilmesser sechszehn Pikken zeigt, so zieht der Muneddi mit einer Anzahl kleiner Knaben in seinem Viertel herum. Sie tragen farbige Fähnchen in den Händen und verkünden singend die Wisa-en-Nil (die Vollendung des Nil), das heißt: daß der Nil die Höhe erreicht hat, bei welcher die Regierung den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_571.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)