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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Waldemar, es thut mir leid, was geschehen ist,“ sagte er, ihm freimüthig die Hand hinstreckend, und diesmal hatte die Bewegung nichts Gezwungenes mehr; sie kam aus vollem Herzen – diesmal ergriff der Bruder aber auch die dargebotene Rechte.

„Versprich mir, die Mutter nach Wilicza zu begleiten! Ich bitte Dich darum,“ fuhr er ernster fort, als Leo widersprechen wollte, „und wenn Du wirklich glaubst, mich beleidigt zu haben, so fordere ich von Dir diesen Dienst als Preis der Versöhnung.“

Leo senkte das Haupt; er gab den Widerstand auf. „Du willst also der Mutter nicht selbst Lebewohl sagen?“ fragte er nach einer Pause. „Das wird sie schmerzen.“

Ein unendlich bitteres Lächeln schwebte um Waldemar’s Mund, als er erwiderte: „Sie wird es zu ertragen wissen. Leb’ wohl, Leo! Es freut mich, daß ich wenigstens Dich noch einmal gesehen habe.“

Der junge Fürst blickte eine Secunde lang in das Gesicht seines Bruders, dann legte er wie in plötzlicher Aufwallung die Arme um seinen Hals. Waldemar duldete die Umarmung schweigend, aber er erwiderte sie nicht, und doch war es die erste zwischen ihnen.

„Lebe wohl!“ sagte Leo erkältet, indem er die Arme wieder sinken ließ.

Einige Minuten später rollte der Wagen, der den jungen Baratowski gebracht hatte, wieder aus dem Hofe, und Waldemar kehrte in das Zimmer zurück. Wer ihn jetzt sah, mit diesen zuckenden Lippen, mit den qualvoll gespannten Zügen und dem starren, düstern Blicke, der wußte, welche Bewandtniß es mit der Ruhe und Kälte hatte, die er während der ganzen Unterredung gezeigt. Sein tödtlich verwundeter Stolz hatte sich aufgerafft; Leo durfte nicht sehen, daß er litt, durfte am allerwenigsten das in C. berichten, jetzt aber bedurfte es der Selbstbeherrschung nicht mehr; jetzt blutete die Wunde wieder. Stürmisch und gewaltsam, wie der ganze Charakter Waldemar’s, war auch seine Liebe gewesen, das erste Gefühl, das sich in dem vereinsamten, verwilderten Jünglinge regte. Er hatte Wanda mit der vollen Gluth der Leidenschaft geliebt, aber auch mit der ganzen Anbetung der ersten reinsten Neigung, und wenn er auch nicht zu Grunde ging an dem Bewußtsein, sich verhöhnt zu wissen, die Stunde, in der sein Jugendideal ihm zertrümmert wurde, kostete ihn doch manches Andere – die Jugend selbst und das Vertrauen zu den Menschen.


Schloß Wilicza, das der ganzen zu ihm gehörigen Herrschaft seinen Namen lieh, bildete, wie schon erwähnt, den Mittelpunkt eines großen Gütercomplexes, der nicht weit von der Grenze des Landes lag. Wohl selten mochte sich ein so ausgedehntes Besitzthum in den Händen eines Einzelnen befinden, und noch seltener mochte es vorkommen, daß der Besitzer sich so wenig darum kümmerte, wie es hier der Fall war. Wilicza hatte von jeher der einheitlichen und einsichtsvollen Leitung entbehrt; der verstorbene Nordeck war eben nur Speculant und hatte als solcher sein Vermögen erworben. Den Großgrundbesitzer zu spielen verstand er weder in gesellschaftlicher noch in praktischer Hinsicht; er war fast gänzlich von seinen Beamten abhängig. Der Sorge für die einzelnen Güter und Vorwerke wußte er sich durch Verpachtung derselben zu entledigen; sie befanden sich noch jetzt in den Händen verschiedener Pächter, nur Wilicza selbst, sein eigener Wohnsitz, wurde davon ausgenommen und der Verwaltung eines Administrators übergeben. Der Hauptreichthum der Güter aber bestand in den ausgedehnten Forsten, die fast zwei Drittel der ganzen Herrschaft einnahmen und ein ganzes Heer von Forstleuten zur Aufsicht nöthig hatten. Sie bildeten einen eigenen Verwaltungszweig für sich, und aus ihnen hauptsächlich stammten die riesigen Einnahmen, die dem Besitzer zuflossen.

Der Vormund des minderjährigen Erben, der nach dem Tode Nordeck’s an dessen Stelle trat, hatte die sämmtlichen früheren Einrichtungen bestehen lassen, theils aus Pietät für den Verstorbenen, theils weil er sie für durchaus zweckmäßig hielt. Herr Witold war ein ganz vortrefflicher Landwirth für das nicht sehr bedeutende Altenhof, das er selbst bewirthschaftete und wo alle Details durch seine Hände gingen; den großartigen Verhältnissen Wiliczas zeigte er sich in keiner Weise gewachsen; ihm fehlte jeder Ueberblick, jeder Maßstab dafür. Er glaubte seiner Pflicht in vollstem Maße nachzukommen, wenn er die vorgelegten Rechnungen und Belege, die er natürlich auf Treue und Glauben hinnehmen mußte, möglichst sorgfältig prüfte, die eingehender Summen gewissenhaft im Interesse seines Mündels anlegte und im Uebrigen die Beamten schalten und walten ließ, wie es ihnen beliebte. Einen andern Besitzer hätte diese Art der Bewirthschaftung vielleicht ruinirt, dem Nordeck’schen Vermögen konnte sie keinen allzu großen Schaden zufügen, denn wenn dabei auch Tausende zu Grunde gingen, so blieben immer noch Hunderttausende übrig, und die großen Einkünfte der Herrschaft, von deren der junge Erbe nur zum kleinsten Theile Gebrauch machen konnte, deckten nicht allein jeden etwaigen Ausfall, sondern ließen auch das Vermögen selbst immer mehr anschwellen. Daß die Güter unter solchen Verhältnissen nicht das werden konnten, was sie in tüchtigen Händen geworden wären, stand fest, aber danach fragte der Vormund wenig und der junge Nordeck that es noch weniger. Er war sogleich nach seiner Mündigkeitserklärung auf die Universität und später auf Reisen gegangen und hatte Wilicza, das er überhaupt nicht zu lieben schien, seit Jahren nicht betreten.

Das Schloß selbst stand im schönsten Gegensatz zu den meisten Edelsitzen der Nachbarschaft, die mit wenigen Ausnahmen kaum den Namen von Schlössern verdienten, und wo oft genug ein gewisser äußerer Glanz, der man um jeden Preis festhalten wollte, den Verfall und die Verkommenheit nicht zu decken vermochte. Wilicza verleugnete auch in seiner äußeren Erscheinung nicht den alten Fürsten- und Grafensitz, der fast zwei Jahrhunderte überdauert hatte. Es stammte noch aus der Glanzepoche des Landes, wo die Allmacht des Adels mit seinem Reichthum Hand in Hand ging und seine Wohnsitze die Schauplätze einer Pracht und Ueppigkeit waren, wie sie unsere Zeit kaum mehr kennt. Das Schloß konnte nicht eigentlich für schön gelten und hätte vor einem künstlerischen Auge schwerlich Gnade gefunden. Der Geschmack, der es schuf, war unleugbar ein roher gewesen, aber es imponirte doch durch die Massigkeit seiner Formen und die Großartigkeit der ganzen Anlage. Trotz all’ der Veränderungen, die es im Laufe der Jahre erfahren hatte, war ihm doch sein ursprünglicher Charakter erhalten geblieben, und der mächtige Bau mit seinen langen Fensterreihen, mit dem weiten rasenbedeckten Vorplatz und dem großen waldartigen Parke hob sich, etwas düster zwar, aber doch imposant aus dem Kranze der prachtvollen Wälder, die ihn umgaben.

Nach dem Tode des früheren Besitzers hatte das Schloß lange Jahre hindurch einsam und verödet gestanden. Der junge Erbe kam nur äußerst selten in Begleitung seines Vormundes dorthin und blieb stets nur wenige Wochen da. Die Einsamkeit nahm erst ein Ende, als die ehemalige Herrin von Wilicza, die jetzige verwittwete Fürstin Baratowska, wieder dort einzog. Jetzt endlich wurden die so lange verschlossenen Räume wieder geöffnet, und die äußerst kostbare Einrichtung, mit welcher Nordeck bei seiner Vermählung Zimmer und Säle ausgestattet hatte, wurde erneuert und in ihrem ganzen früheren Glanze wieder hergestellt. Der jetzige Besitzer hatte seiner Mutter die sämmtlichen Einkünfte des Schloßgutes zugewiesen, für ihn ein nur unbedeutender Theil seines Einkommens und doch hinreichend, der Fürstin und ihrem jüngsten Sohne eine standesgemäße Existenz zu sichern, so weit sie auch den Begriff „standesgemäß“ auffassen mochte. Sie machte denn auch vollständigen Gebrauch von den Summen, die zu ihrer Verfügung standen, und ihre Umgebung und Lebensweise wurde auf einen ähnlichen Fuß eingerichtet, wie zu jener Zeit, wo die junge Gräfin Morynska als Gebieterin in Wilicza einzog und ihr Gemahl es noch liebte, vor ihr und ihren Verwandten seinen Reichthum zur Schau zu tragen.

Es war im Anfang des October; der Herbstwind strich schon rauh über die Wälder hin, deren Laub sich allmählich zu färben begann, und die Sonne kämpfte sich oft mühsam durch die dichten Nebel, welche die Landschaft einhüllten. Auch heute war es erst gegen Mittag klar geworden, und jetzt schien die Sonne hell in den Salon, der unmittelbar an das Arbeitscabinet der Fürstin stieß und den sie gewöhnlich bewohnte. Es war ein großes Gemach, hoch und etwas düster, wie die sämmtlichen Räume des Schlosses, mit tiefen Fensternischen und einem mächtigen Kamin, in dem bei der herbstlichen Kühle schon ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_548.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)