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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 33.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Die Bewohner von Altenhof hatten eine Woche von Angst und Sorge durchlebt. Als Herr Witold an jenem Abend zurückkam, fand er das ganze Haus in Aufruhr. Doctor Fabian lag blutend und noch immer bewußtlos in seinem Zimmer, während Waldemar, mit einem Gesichte, das den Pflegevater fast noch mehr erschreckte, als das Aussehen des Verwundeten, sich bemühte, das Blut zu stillen. Von ihm war nichts weiter herauszubringen, als daß er die Schuld an dem Unglück trage, und so blieb der Gutsherr größtentheils auf den Bericht der Dienstleute angewiesen. Von ihnen erfuhr er, daß der junge Herr mit einbrechender Dämmerung angelangt war, den Verletzten, den er die ganze Strecke getragen haben mußte, in den Armen, und sofort Boten nach dem zunächst wohnenden Arzte gejagt hatte. Eine Viertelstunde später war auch das Pferd eingetroffen, erschöpft und mit allen Spuren eines heftigen Rittes. Das Thier hatte den wohlbekannten Weg nach Hause zurückgelegt, als es sich von seinem Herrn verlassen sah; weiter wußten die Leute nichts. Der bald darauf eintreffede Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht bei der Untersuchung. Die Kopfwunde, die offenbar von einem Hufschlag herrührte, schien bedenklicher Art zu sein, und der starke Blutverlust und die schwächliche Constitution des Verwundeten ließen eine Zeit lang das Schlimmste befürchten. Herr Witold, der bei seiner eigenen und Waldemar’s kerngesunden Natur bisher nie gewußt hatte, was Krankheit und Sorge eigentlich sei, schwor oft genug, daß er für alle Schätze der Welt diese Tage nicht noch einmal durchleben möchte. Heute zum ersten Male zeigte das Gesicht des Gutsherrn wieder seinen gewöhnlichen derb gutmüthigen und unbekümmerten Ausdruck, als er in dem Zimmer des Kranken an dessen Bette saß.

„Also das Schlimmste hätten wir glücklich überstanden,“ sagte er. „Und nun, Doctor, thun Sie mir den Gefallen und setzen Sie dem Waldemar den Kopf zurecht!“ Er zeigte auf seinen Pflegesohn, der am Fenster stand und, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, auf den Hof hinausblickte. „Ich richte nichts mit ihm aus, aber Sie können ja jetzt Alles bei ihm durchsetzen; also bringen Sie ihn zur Vernunft! Der Junge geht mir sonst noch zu Grunde an der unglückseligen Geschichte.“

Doctor Fabian, der eine breite weiße Binde um die Stirn trug, sah noch sehr angegriffen aus, aber er saß doch schon wieder aufrecht, in die Kissen gelehnt, und seine Stimme klang, wenn auch noch etwas matt, doch vollkommen klar, als er fragte: „Was soll denn Waldemar?“

„Vernünftig sein!“ erklärte Witold mit Nachdruck. „Und Gott danken, daß die Geschichte noch so abgelaufen ist; statt dessen plagt er sich damit herum, als hätte er wirklich einen Mord auf dem Gewissen. Ich habe wahrhaftig auch Angst genug ausgestanden während der erste Tage, wo Ihr Leben an einem Haare hing, aber jetzt, wo der Arzt Sie für außer Gefahr erklärt hat, kann man doch wieder aufathmen. Was zu viel ist, ist zu viel, und ich halte es nicht aus, wenn mir der Junge noch länger mit solchem Gesicht herumgeht und stundenlang kein Wort spricht.“

„Aber ich habe es Waldemar ja schon so oft versichert, daß ich allein die Schuld an dem Unfalle trage,“ sagte der Doctor. „Er war ja in vollem Kampfe mit dem Pferde begriffen und konnte es nicht sehen, daß ich so nahe stand. Ich war so unvorsichtig, dem Thiere in die Zügel zu greifen, und da riß es mich nieder.“

„Sie sind dem ‚Normann‘ in die Zügel gefallen?“ rief der Gutsherr starr vor Staunen. „Sie, der Sie jedem Pferde zehn Schritte aus dem Wege gehen und der wilden Bestie vollends niemals zu nahen wagten? Wie kamen Sie denn dazu?“

Fabian sah zu seinem Zöglinge hinüber. „Ich hatte Furcht vor einem Unglücke,“ entgegnete er sanft.

„Das auch ohne Frage erfolgt wäre,“ ergänzte Witold. „Waldemar muß an dem Abende seine fünf Sinne nicht recht beisammen gehabt haben. An der Stelle über den Graben setzen zu wollen, noch dazu mit einem halbtodt gejagten Pferde und bei einbrechender Dämmerung! Ich habe es ihm immer gesagt, er würde noch einmal ein Unglück anrichten mit seiner Wildheit; nun hat er eine Lehre bekommen – freilich, er nimmt sie sich doch etwas gar zu sehr zu Herzen. Also, Doctor, lesen Sie ihm ordentlich den Text – das Sprechen ist Ihnen ja jetzt wieder erlaubt –, und dann reden Sie ihm zu, vernünftig zu sein! Ihnen folgt er jetzt auf’s Wort, das weiß ich.“

Damit stand der Gutsherr auf und verließ das Zimmer.

Die beiden Zurückgebliebenen schwiegen eine Weile; endlich begann der Doctor: „Haben Sie gehört, Waldemar, was mir aufgetragen wurde?“

Der junge Mann, der bisher schweigend und theilnahmlos am Fenster gestanden hatte, als berühre ihn das Gespräch gar nicht, wendete sich sofort um und trat an das Bett. Auf den ersten Blick schien die Besorgniß Witold’s übertrieben; eine Natur wie die Waldemar’s unterlag nicht so leicht seelischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_545.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)