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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


ist. Während der Ausstellung von 1867 brachte ich fast alle Abende in einer kleinen Bierwirthschaft zu, wo sich eine Bande ungarischer Zigeuner producirte. Ach, der Csardas! Ja, jene Zigeuner, die wie die Vögel einer harmonischen Caprice folgen, spielten ganz nach meinem Sinn. Jene Tonfluthen, die jetzt in wildem Ungestüm aufjauchzen und dann wieder in seliger Wehmuth und Andacht hinschmelzen und hinsterben, schienen mir irdisches und himmlisches Glück und Leiden, alle Geheimnisse der zerstörenden und aufbauenden Naturgewalten zu offenbaren. Alles das und unendlich viel mehr hört man aus dieser Zigeunermusik. Ich bedaure, daß Liszt so gelehrt geworden ist.“

Sie sagte dies mit so viel innerer Erregung, daß die Schleier, welche ihre spröde Stimme gewöhnlich umhüllen, wie zerrissen schienen und die Worte voll, warm und klar hervordrangen, während ihre Hände mechanisch über die Tasten glitten und ein ungarisches Adagio von Miska Hauser vernehmen ließen. Dann erhob sie sich mit leise gerötheten Wangen und setzte sich still und fast verschämt wieder an den Tisch; nach einer Weile ergriff sie eine Cigarrette und zündete sie an.

Sie rauchte – das war das Einzige, das im Wesen der außerordentlichen Frau, die mit dem Alter ruhiger wurde, aber jung blieb bis zum letzten Augenblicke, von der Sturm- und Drangperiode übrig geblieben. Es war weniger ein Rauchen, als ein Spielen mit dem Feuer. Bald warf sie auch die erst zur Hälfte heruntergebrannte Cigarrette weg und ergriff, wieder ganz ein Weib, Stricknadel und Arbeitskörbchen; nun ergaben sich die drei Damen ihren Handarbeiten, ohne jedoch auf die Theilnahme an der lebhaften Conversation zu verzichten. Sie schneiderten Kleider und verfertigten Strümpfe und Schuhe für die bedürftigen Kranken und Champis (Findlinge) des Berry, denn alle Armen und Elenden des Departements pilgerten hülfesuchend nach dem Schlosse zu Nohant, wurden dort freundlich aufgenommen, beherbergt, gekleidet und verpflegt und mit Geld, Arbeit und Empfehlungen reichlich versehen. Sogar eine Apotheke befindet sich im Hause und der Dorfarzt mußte auf Kosten der Schloßfrau die kranken Landarmen unentgeltlich behandeln. Bei einer solchen Gastlichkeit und Freude am Wohlthun ist es nicht zu verwundern, daß die vierzigtausend Franken jährlicher Rente, die das ständige Einkommen George Sand’s bildeten, nicht ausreichen konnten und daß die greise Dichterin genöthigt war, mit der „Revue des deux Mondes“ einen Vertrag zu schließen, demzufolge sie gegen eine jährliche Rente zwei bis drei Novellen zu liefern hatte. Das kam ihr aber nicht schwer an – im Gegentheil! Die Arbeit war ihr von jeher eine Erholung gewesen, um so mehr, als sie sich bewußt war, für ihre Familie und für die Armuth zu arbeiten. Ich war Zeuge einer unendlich rührenden Scene, wo einige Dorfarme von der Poetin beschenkt wurden. Die armen Teufel hatten Thränen in den Augen und konnten vor Freude kein Wort über die Lippen bringen. Und George Sand? Ihr ging es nicht anders. Sie stand verlegen und mit nassen Augen da, denn nichts schüchterte sie mehr ein, als Danksagungen, sie, die sonst die Gewohnheit haben dürfte, solche zu empfangen. Man nannte sie nicht vergeblich zehn Meilen in der Runde: „La chère dame – die liebe Dame“.

Der echt weibliche Trieb der Wohlthätigkeit war die hervorragendste, stärkste Eigenschaft ihres Charakters; den Egoismus des Herzens, wie er sich unbewußt in der Liebe kundgiebt, kannte sie nicht. Sie war die fleischgewordene Selbstlosigkeit sogar in ihren zahlreichen Liebesverhältnissen. Diese Frau, welche die Geschichte ihres Lebens mit den Worten schließen durfte: „Ich prüfe mein Herz und finde es voll Unschuld und Barmherzigkeit, wie in den ersten Tagen meiner Kindheit,“ sie besaß nach ihrem eigenen Geständniß nicht jene verzehrende Sinnlichkeit, die man ihr so oft andichten wollte. Sie war doctrinär selbst an der Leidenschaft und stand immer über derselben, wie die Mehrzahl ihrer Romanheldinnen; wenigstens von ihrer persönlichen Seite lag all ihren Verhältnissen ein nichts weniger als selbstsüchtiger, sondern ein geradezu idealer Zweck zu Grunde. Immer war es dieser Wohlthätigkeitssinn, der sie jene Liebesbande schließen ließ, die ihr den Ruf der Immoralität, der Unbeständigkeit eintrugen. Nüchtern und kühl, nach reiflicher Ueberlegung, im Bewußtsein einer „Pflicht, die sie kalt erfüllte“, aber mit einem Herzen voll Mitleid, fast mütterlichen Gefühlen und ohne eigentliche Liebe, lebte sie in inniger Gemeinschaft mit Alfred de Musset und später mit Chopin. Sie bezeugt es selbst, und wir müssen es ihr glauben, daß sie den Ersten durch ihre Hingabe vor Selbstmord und gänzlichem Verkommen erretten wollte, und daß sie zu dem genialen Polen blos der Wunsch hintrieb, die Krankenpflegerin des unrettbar dem Tode verfallenen, weltverlassenen Schwindsüchtigen zu sein. Wenn diese platonischen Neigungen in der Folge naturgemäß ihre Unhaltbarkeit erwiesen, so ändert dies nichts an der Reinheit und Selbstlosigkeit ihrer Motive und steigert nur noch die Größe des Opfers, das man von ihrer Barmherzigkeit forderte.

Dieses Mitleid, dieses Gefühl rein menschlicher Liebe und samaritischen Wohlthuns liegt auch ihrer Parteinahme für die Emancipation des Weibes und des vierten Standes zu Grunde und findet ergiebigen Ausdruck in allen ihren Romanen, selbst in den Werken ihrer Jugend, wo die Moral oft schief und falsch, aber niemals niedrig ist. Die Sphäre von Einfachheit und Güte, worin sie lebte, war ihr Bedürfniß, und gern theite sie mit Anderen. Sie verstand es, echteste Cameradschaftlichkeit zu üben. Wie nachsichtig und aufmunternd war sie gegen Anfänger! Sie besaß weniger Feinheit des Urtheils – daher die moralischen und socialistischen Irrthümer ihres Lebens – als ein Uebermaß von Wohlwollen.

Es erschien in Frankreich nicht leicht das Werk eines Anfängers, ohne daß man sie um ihr Urtheil gebeten hätte. Ein solches Buch zeigte sie mir an jenem Abende, bevor sie sich in ihr Studirzimmer zurückzog, wo sie allnächtlich einige Stunden zu arbeiten pflegte.

„Das ist ein energisches, wahrheitsliebendes Buch. Es hat mir den Wunsch eingeflößt, besser zu werden und freigebiger gegen die Niedriggeborenen und Enterbten. Nachdem ich es gelesen, blieb ich zwei Tage ohne arbeiten zu können.“

Die edle Greisin wünschte also besser und barmherziger zu werden, noch mehr Gutes zu verrichten, als sie gethan hat. Ist das nicht rührend?

Noch sehe ich die „liebe Dame“, wie sie sich um Mitternacht von der Gesellschaft verabschiedete und, ein Lämpchen in der Hand, in’s Nebengemach ging, wo ihr unsterblicher „Marquis de Villemar“ geschaffen wurde. Ein kleines Bett aus Mahagoni mit großen Vorhängen und Medaillons, worauf die Geschichte des Telemach dargestellt ist, ein hölzernes Pult mit bequemem Lehnstuhle und an den Wänden die Portraits ihres Großvaters, des Marschalls Moritz von Sachsen, ihres Vaters, des Obersten Dupin, Adjutanten Murat’s, ihrer Mutter, ihres Sohnes und ihrer Enkelinnen – das ist ihr Studir- und Schlafzimmer.

In diesem Gemache und in jenem Lehnstuhle ist sie auch weniger als vierzehn Tage nach meinem Besuche gestorben und hat ihre Familie und Frankreich in Trauer und Bestürzung zurückgelassen. Ihr Leibarzt sagte mir, sie habe schon Monate vor ihren Tode unsäglich gelitten, ohne es ihrer Umgebung durch die leiseste Klage zu verrathen. Vielleicht verbarg das freundliche Lächeln, mit dem sie mich empfing und verabschiedete, den mit frischem Muthe bekämpften Ausdruck physischen Leidens. In ihrer achttägigen letzten Krankheit pflegte sie bei den heftigsten Qualen lautlos ihr Gesicht zu bedecken, wie die alten Römer es thaten, wenn sie ihr Ende nahe fühlten. Ohne Phrasen, wie sie gelebt, starb auch diese große Frau.




Eine Eintrittspforte zum Thüringer Walde.


Groß und in beständiger Mehrung ist die Zahl der Waller, die alljährlich nach dem Rüstgange des Winters heilsuchend für die Gebrechen des Leibes und der Seele oder auch aus frischer Wanderlust hineindringen in das lauschige Waldgeheimniß der Thüringer Berge. Vor Zeiten kamen die Thüringer Sommergäste tief aus dem Süden. Es waren seltsame, schier unheimliche Gäste, fremd im Gebahren, fremd in der Tracht. Prüfend und forschend durchzogen sie das vielfach noch unerschlossene

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_537.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)