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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Damals lebte zweierlei Volk in den Mauern der alten Reichsstadt. Die Einen – ihr Häuflein schmolz mit jedem Jahre zusammen – hielten treu an vaterländischer Sprache und Sitte; die Anderen lockte der fremde Zauber gewaltsam über die Berge. Selbst der wackere Meistersänger Daniel Hirtz begrüßte mit dem vaterländischen Titel „Die glückhaften Schiffe“ die beiden Boote, welche im Juni 1836 die erste Reise von Straßburg nach Paris vollbrachten. Seit dem Staatsstreiche und namentlich kurz vor dem Ausbruche des deutsch-französischen Krieges wurden die freundlichen Verhältnisse der elsässischen Protestanten mit Deutschland und den benachbarten Schweizerstädten in gehässigen Flug- und Fluchschriften denuncirt. Beim Ausbruche des Kampfes wurden die Delegirten der schweizerischen Hülfsvereine theils verdächtigt, theils mit Gefängniß bedroht. Auch das Palladium des oberdeutschen Bundes, der Züricher Breitopf, wurde in der sogenannten Bartholomäusnacht des Jahres 1870 zertrümmert.

Es sollte neues Leben aus den Ruinen erblühen. Plötzlich erschienen die Abgeordneten der Städte Zürich, Bern und Basel in den Mauern der hart geängstigten Stadt und theilten der staunenden Volksmenge den Entschluß der Schweizer mit, allen elsässischen Flüchtlingen, und sollten sie nach Zehntausenden zählen, eine freundliche Herberge zu gewähren. Auf allen Schlachtfeldern Elsaß-Lothringens, in allen durch Kriegsnoth heimgesuchten Städten erschienen die treuen Eidgenossen als Helfer in der Noth mit tröstendem Wort und reichlicher Spende. In dankbarer Erinnerung widmete der elsässische Geschichtschreiber Rathgeber seine „Geschichte der Stadt Straßburg“ den deutschen Schweizerstädten. Unter dem Titel „Gute Nachbarschaft“ wird die Züricher Breifahrt in den Lesebüchern der elsaß-lothringischen Volksschulen erzählt. Seit 1871 erinnert der Name einer Gasse Straßburgs (die Zürcherstraße) an Alles, was die Züricher in Freud und Leid an ihren Bundes- und Stammesgenossen gethan. „Denkt an den 20. Juni 1576! Denkt an den 11. September 1870!“ hieß es in Straßburg, als man eine Collecte für die Ueberschwemmten im oberen Rhonethal eröffnete.

„Die Schweizertreue sei gepriesen,
So felsenfest wie Alpenhöh’n,
So tief wie eure blauen Seen!“

klingt es in den Liedern, die uns zur dritten Säcularfeier der Züricher Breifahrt mitgetheilt wurden. Der Vorschlag eines ultramontanen Deputirten, für die in den Jahren 1376 und 1476 im Kampfe gegen die Engländer (Armagnaken) und Burgunder gefallenen Bürger einen Todtendienst zu halten, fand wenig Anklang bei den Straßburgern. Uns treibt das Herz, am 20. Juni 1876 den treuen Eidgenossen die Bruderhand zu reichen und mit ihnen den Rütlischwur zu wiederholen:

„Ob uns der Strom, ob uns die Berge scheiden
Und jedes Volk sich für sich selbst regieret,
So sind wir eines Stammes doch und Bluts.“




Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
9. Der Genossenschafts-Revolver.


Zu der Menge von originellen Typen, die das heitere, leichtlebige Künstlervölkchen aufzuweisen hat und welche an dieser Stelle bereits Beachtung und Besprechung gefunden, gesellt sich in letzterer Zeit eine neue, noch gar nicht genugsam gewürdigte Gattung von Originalien, deren Anzahl indessen schon eine bedeutende ist und unter denen sich ebenso interessante wie merkwürdige Exemplare befinden.

Die „Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehöriger“, dieses segensreiche, nicht hoch genug zu schätzende Institut ist es, der diese sonderbare Species von „homo theatralis“ ihre Entstehung verdankt. Jedem meiner Collegen und Colleginnen ist sie genugsam bekannt, das Publicum indessen hat noch wenig oder gar keine Gelegenheit gehabt, einen Blick in die stille Wirksamkeit dieser interessanten Käuze zu thun, die es werth sind, daß man sie ihrer Verborgenheit entreißt, ihr Thun und Treiben, ihre hohen Verdienste zur Kenntniß weiterer Kreise bringt. Ich spreche von dem sogenannten „Genossenschafts-Revolver“.

Die Gelder, die der Pensionscasse der „Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger“ durch die obligatorischen monatlichen Einzahlungen der Mitglieder zuströmen, werden um ein Beträchtliches vermehrt durch freiwillige Beiträge der Bühnenkünstler. Tausende von Thalern fließen auf diese Weise jährlich der Generalcasse zu. Diese freiwilligen Beiträge mit allen Mitteln von seinen Collegen einzutreiben, ist Ziel und Lebensaufgabe des Genossenschafts-Revolvers, und er weiß sich dieser selbstübernommenen heiligen Verpflichtung mit einer Consequenz, Ausdauer und Unermüdlichkeit, mit einem Aufwande von Erfindungsgabe ohne Wahl der Mittel, nach wirklich jesuitischen Grundsätzen zu entledigen.

Der Genossenschafts-Revolver gehört gewöhnlich der jüngern Generation darstellender Künstler an, spielt Liebhaber, Komiker oder Bonvivants, ist ein gefälliger, angenehmer College, ein beliebter Gesellschafter, immer liebenswürdig und bei Humor, kurz der Urtypus eines sorglosen, heitern, gutmüthigen Komödianten, bis auf die eine schon erwähnte Leidenschaft, in welcher er weder Mitleid noch Erbarmen kennt. An Zähigkeit und Geschicklichkeit in Schröpfung der Geldbeutel seiner Collegen kann er sich mit dem gewiegtesten Collectenbruder messen, den er an Gefährlichkeit noch bei Weitem übertrifft. Alle seine Fähigkeiten concentriren sich in diesem einen Brennpunkte. Der ihn beseelende, nie rastende Feuereifer findet seine Erklärung allein in dem Umstande, daß der Genossenschafts-Revolver für die Unsterblichkeit arbeitet. Sein einziger Lohn ist nämlich der, seinen Namen allwöchentlich in den Spalten des officiellen Organs der Genossenschaft unter der Rubrik für kleine Beiträge zu lesen.

Da steht denn: „Durch Herrn N. N. gesammelt.“ Mit freudestrahlenden Augen liest der Genossenschafts-Revolver diese Notizen, streicht die Stelle mit einem Rothstifte sorgfältig an und legt die Zeitung zu den vielen übrigen, in denen bereits sein Name prangt, um sie am Jahresschlusse einbinden zu lassen. Auf einen solchen Band blickt er dann mit größerer Liebe, als irgend ein Autor auf seine Geisteswerke. Der Anblick ermuthigt und stärkt ihn zu neuen Thaten, er spornt ihn an, setzt ihn über alle Hänseleien und Grobheiten von Seiten seiner Collegen, seiner Opfer, hinweg und ist für ihn die unerschöpfliche Quelle reiner Freude und stolzer Genugthuung.

Ich will mich bemühen, die Wirksamkeit des Genossenschafts-Revolvers in den folgenden Zeilen in einigen Zügen zu schildern.

Die Mitglieder eines Provinzial-Stadttheaters sitzen gemüthlich des Abends beim Glase Bier zusammen, nichts Uebles ahnend. Plötzlich tritt der gefürchtete Geossenschafts-Revolver ein. Jeder greift ängstlich nach dem Portemonnaie und gelobt sich im Stillen, diesmal durch keinerlei „bübische Kniffe“ sich nur einen Pfennig ablocken zu lassen.

Der Genossenschafts-Revolver weiß das – er befindet sich stets auf dem Kriegspfade, und die Gesinnung seiner Gegner ist ihm kein Geheimniß. Ein humoristisches Lächeln gleitet über seine Züge; siegesgewiß nimmt er in der Mitte seiner Collegen Platz. Er kennt seine Pappenheimer; einige fallen doch herein und er hat sich schon vorbereitet.

Das Gespräch dreht sich eine Weile um allerlei Theater-Historien und Scandälchen, um die Auffassung dieser oder jener Rolle etc.; der Genossenschaft wird nicht erwähnt – Alles athmet auf. Plötzlich zieht der Genossenschafts-Revolver eine große in Bast gehüllte Cigarre aus der Tasche und legt sie auf den Tisch.

„Meine Herren,“ beginnt er, „diese vorzügliche Cigarre erhielt ich heute von Baron X. Er bot sie mir eigenhändig an. Sie ist mir zu schwer; ich will sie daher zu Gunsten der Genossenschaft versteigern – wer bietet?“

Starrer Schrecken! Endlich faßt sich ein muthiger Jüngling ein Herz – die Cigarre scheint ja eines Gebotes werth zu sein.

„Zehn Pfennige gebe ich,“ sagt er entschlossen, um der Sache ein Ende zu machen.

„Fünfzehn Pfennige!“ ruft ein Zweiter.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_527.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)