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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


der Größe eines Rindes, dazu halb gefroren frei in der Luft hängend zu öffnen und auszunehmen, mag dabei nur noch beherzigen, daß das Aufgehen eines einzigen Knotens für den daran Hängenden ein unabwendbares Todesurtheil bedeutet hätte, und er wird zugeben, daß der Fall einzig in seiner Art und werth ist, der alpinen Jagdchronik einverleibt zu werden.

Nachdem der Aufbruch entfernt war, gelang es dem Manne, den Hirsch über das Hinderniß wegzubringen, und langsam kamen Hirsch und Wagehals an die Oberfläche. Nun war die kühne That vollbracht; die Felswände hallten von dem Jauchzen der fröhlichen Männer wieder, und langsam löste sich eine große Eismasse vom oberen Theile der Schlucht und fiel krachend in die Tiefe. Zwar war es kein leichtes Stück Arbeit, das gewaltige Thier über den schmalen Felsvorsprung weg noch ungefähr eine Viertelstunde weit auf einem Wege zu schleifen, den nicht jeder Bergbesteiger begehen möchte, doch das war nach solchen Vorgängen eine Sache von untergeordneter Bedeutung. Bald kam man an eine gefahrlose Stelle; dort wurde der so mühsam zu Tage geförderte Hirsch auf einen Ziehschlitten, einen sogenannten Horner, gelegt und mit Tannenreis geschmückt. Nun ging’s im Triumphe nach Oberstdorf hinunter. Die Kunde vom Gelingen des Unternehmens ging wie ein Lauffeuer durch die Ortschaft; haufenweise eilte man den verwegenen Zwing-Erforschern entgegen und Schoell mit seiner Schaar war unbestritten der Held des Tages.

Man wird nun noch billiger Weise fragen: Wie mag wohl der Hirsch ausgesehen haben nach einem so unerhörten Sturze? Das ist das Wunderbarste an der Sache: der Hirsch war fast gar nicht verletzt, die Decke kaum ein wenig geschunden, und vom Geweihe war lediglich die rechte Augenzinke abgebrochen; das Fleisch war frisch, ausgenommen an den Stellen des Anschusses, und die Zwinghelden verzehrten am Weihnachtsvorabende hochvergnügt einen sogenannten „Sarazener“, bereitet aus der Leber des Hirsches.

B. Rauchenegger.




Ein Besuch bei George Sand.
Von Gottlieb Ritter.


„George Sand ist todt.“ Wie ein Lauffeuer ging diese traurige Botschaft am 8. Juni durch das große Paris. Ich sehe und höre es noch, wie die melancholischen vier Worte in den volksbelebten Straßen und überall, wo die Menschen zusammen kommen, von Mund zu Mund liefen und manches Augen trübten und manches Lächeln verscheuchten. Es ist ein eigenes, ganz einziges Weh, das man bei einem solchen Verluste empfindet; es giebt lebhaftere Schmerzen, die dem Herzen näher gehen, aber keine tieferen. Man fühlt mit einem Male eine Kälte und Verfinsterung, wie wenn ein Licht da oben verlöschte; es ist die Schwermuth und das Unbehagen eines Tages der Sonnenfinsterniß.

Um wie viel größer und stärker ist unser Leid, wenn wir die Todte gesehen gekannt, geliebt haben! George Sand – auch die Fernerstehenden kennen sie, denn ihre Werke, ihr eigenstes Ich, sind ihnen erschlossen; sie haben die Genugthuung, zu wissen, daß sie zur nämlichen Zeit gelebt hat; man kennt ihren Ideenkreis, ihr Gemüth, ihr Herz aus ihren Werken, und so kommt es, daß sie jenen, die sie kennen, ohne sie gesehen zu haben, oft vertrauter ist, als eine nächste Verwandte. Daher diese allgemeine herzliche Trauer um George Sand.

Ich habe sie gekannt. Wenige Tage, bevor der Tod sie auf das Sterbelager streckte, führte mich mein Weg zu ihr; ich bin vielleicht der letzte Gast im Schlosse zu Nohant, dessen Eingang die geniale Castellanin gesegnet hat, und den sie mit rührender Ahnungslosigkeit einlud, sie recht bald wieder zu besuchen. Kaum kann ich es glauben, daß sie schon jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilt, daß ihre großen Augen, die wie glühende Kohlen aussahen, gebrochen und erloschen sind. Aber Petrarca hat Recht, wenn er selbst die lebensprühendsten Augen sterbliche Sterne nennt. George Sand ist wirklich todt. Mein mir unvergeßlicher Besuch bei ihr wurde mir dadurch eine um so theuerere Erinnerung, weil es die einzige und die letzte an die große Todte ist. Ich will versuchen, das Bild zu fixiren[WS 1], bevor die Zeit darüber hinweggeht und die Farben erblassen macht, die ich von jenen schönen Stunden zu Nohant im Herzen trage.

Als ich zum Besuche der berühmten Frau von Paris nach La Châtre fuhr, der Eisenbahnstation des unfernen Nohant, da schuf ich mir im Geiste das Conterfei der Dichterin, wie es sich etwa aus dem Mosaik ihrer Werke und Thaten zusammensetzen ließ, und nahm mir vor, alsdann dieses Ideal mit der Wirklichkeit zu vergleichen, die mir ja bald gegenübertreten sollte. Man kennt George Sand’s Marotte, im Buche wie im Leben als Mann gelten zu wollen. Im Beginne ihrer literarischen Laufbahn ging sie am liebsten in Männerkleidung und Stiefeln spazieren, und bis zu ihrem Tode rauchte sie mit Leidenschaft – allerdings sehr unschuldige – Cigarretten. Selbst in ihren zahlreichen Liebesverhältnissen, wie in ihrer naturgemäß unglücklichen Ehe, war sie immer bestrebt, ein souveränes Uebergewicht beizubehalten. Sie war nach einander Emancipirte, Socialist und Republikaner; sie warf mit einem männlichen Muthe erst der Gesellschaft, dann der Tyrannei den Handschuh hin; sie fraternisirte mit Barrikadenhelden, war Journalist und Zeitungsredacteur und schrieb glühende Pamphlete und Manifeste für die Provisorische Regierung und die „Commune de Paris“. Etwas Vulcanisches, Revolutionäres steckte in ihr, die zuerst die Marseillaise des Weibes anstimmte und der gute Camerad der Demokraten war. Was Wunder, daß diese außerordentliche Frau oft an ihrem eigenen Geschlechte irre wurde und ihren Stolz darein setzte, als Mann zu gelten. Aber schaut man etwas näher zu, so verwandelt sich dieser halbe Mann in ein ganzes Weib, dem alle Vorzüge und viele Schwächen des Geschlechts anhaften und dessen Größe nicht zum geringsten Theile gerade in der Gebundenheit dieses Geschlechts liegt. Ihr Wesen äußert sich immer in echt weiblicher Subjectivität; Alles löst sich ihr in Stimmung auf. Sie denkt mit dem Herzen, und all ihr Philosophiren, oder wie man es sonst nennen will, entströmt ihrem überaus zart besaiteten Gemüthe, das specifisch weiblich ist. In dieser Weiblichkeit fußt ferner jenes charakteristische sich Hingeben und Anlehnen an fremde, das heißt männliche Individualitäten, mögen ihr diese noch so unterlegen sein. Mit ihren Geliebten und Cameraden änderte sie ihre religiösen und philosophischen Meinungen. Freie Liebe predigte sie in den Armen von Jules Sandeau und Alfred de Musset, und christliche Ergebung mit Lamennais, jenem glühenden Priester, der sich bei seiner Kurzsichtigkeit einmal irrte und statt des rothen Cardinalshutes die rothe Jacobinermütze auf die Tonsur setzte.

Dann wieder erging sie sich an der Seite von Pierre Leroux im blauen Dunst der Mystik, folgte Michel de Bourges bis in die extremsten Theorien des Socialismus und schrieb für Ledru-Rollin revolutionäre Manifeste im Lager der radicalen Citoyens. Nur einem Einzigen ist sie ihr Lebenlang treu geblieben: Rousseau und seiner Weltanschauung. Hier bestätigt sich wieder so recht die tiefe Wahrheit, die dem berühmten Worte Goethe’s zu Grunde liegt: daß Niemand wähnen möge, seine Jugendeindrücke verwinden zu können. Der Genfer Philosoph war der Evangelist ihres elterlichen Hauses; ihre Großmutter wußte den „Emile“ und die „Neue Heloise“ fast auswendig; Rousseaus Schriften bildeten die erste Lectüre des heranwachsenden Mädchens und blieben die steten Begleiter der Frau, der Greisin. Ihr ganzes Denken, Fühlen und Schaffen wurde schon von Grund aus so sehr durch Rousseau bestimmt, daß sich dessen Ideenkreis mit dem ihrigen identificirte und ihrem Gemüthe ein unauslöschliches Gepräge gab. Bis auf die Form erstreckte sich diese durchaus weibliche Anlehnung an Jean Jacques, der ja von jeher einen weit größeren Einfluß auf das schöne, als auf das starke Geschlecht ausgeübt hat, und wenn sie später versuchte, ihren Styl zu wechseln, um dem Vorwurfe der Nachäfferei zu entgehen, so gelang ihr dieses Experiment nur sehr mangelhaft.

Wirkliche Männer vermochte George Sand niemals zu

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fixirien
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_520.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)