Seite:Die Gartenlaube (1876) 519.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Freunden das Wild zu suchen. Er ließ sich an verschiedenen Plätzen an einem Seile fast bis zum Wasserspiegel hinab und durchforschte die ganze Zwing, bis er endlich fast am Ausgange derselben den Hirsch auf einer theilweise noch vom Wasser bespülten Felsplatte auf der linken Seite der Schlucht liegen sah. Leider war gerade diese Seite die am schwersten zugängliche, und der Gedanke, das verendete Thier heraufbringen zu können, wurde sogar von den erfahrensten Bergsteigern als unausführbar verworfen. Gerade diese angenommene Unmöglichkeit scheint aber einen so mächtigen Reiz auf den Unternehmungsgeist der Kühnsten unter den Bergmenschen ausgeübt zu haben, daß die Sache nicht aufgegeben wurde, sondern die Zutageförderung des Hirsches nunmehr als ein Ziel des höchsten Ehrgeizes erschien.

Nach ein paar Tagen meldete sich bei dem königlichen Förster ein Ortsbewohner des nahe liegenden Dorfes Tiefenbach, welcher sich erbot gegen eine Entschädigung von fünfundzwanzig Gulden den Hirsch aus der Zwing zu holen. Diese Bedingung wurde angenommen, und der Unternehmer Namens Seraphim Schoell, ein Mann nahe den Fünfzigern, machte sich daran, die Expedition auszurüsten.

Schoell selbst ist eine Erscheinung, wie man sie sogar in diesem Theile des Gebirges nur noch in einzelnen Exemplaren findet. Ein ungeheures Knochengerüst, überzogen mit Sehnen und Muskeln wie von Stahl und bedeckt mit einer fast „lohgaren“ Haut ohne eine Spur von Fett und Fleisch, läßt zwar auf Kraft und Ausdauer, aber nicht auf den hohen Grad von Gewandtheit und Sicherheit schließen, den der kühne Bergsteiger besitzt. Wenn man aber in das Gesicht desselben blickt und die scharfgebogene Nase sowie die tiefliegenden blitzenden Augen betrachtet, dann begegnet man einem so ausgeprägten Kennzeichen der Energie, daß man an der Ausführung keines Vorsatzes dieses Mannes mehr zweifelt.

Derselbe wählte zu seinem Unternehmen noch neun Männer aus, von denen einer, Namens Speiser, ihn in die Tiefe begleiten sollte, die anderen aber zum Halten der Ablaßseile bestimmt waren. Die zu solchen Zwecken verwendeten Seile sind zwar nicht dick, aber sehr sorgfältig und von bestem Materiale gearbeitet, sodaß ein Zerreißen derselben ohne mechanische äußere Einwirkung nicht leicht vorkommt; man nennt diese Art Seile gemeinhin „Krieg-Seile“ (von dem Zeitwort „kriegen“ abgeleitet).

Zwei Tage vor Weihnachten begab sich die Zwing-Expedition an Ort und Stelle. Der einzige zum Werke passende Platz war aber so beschaffen, daß gewiß jedem Techniker die Lust vergangen wäre, nach den Regeln der Kunst und Wissenschaft die nöthigen Dispositionen zu treffen. Ein paar dicht über dem Rande des Abgrundes ineinander gewachsene Föhren bildeten den Hauptanhaltspunkt für die beabsichtigte Operation. Das Terrain, auf welchem die Hülfstruppen vertheilt werden mußten, war höchstens anderthalb Meter breit und dazu sehr abschüssig; da wurden nun die acht Nothhelfer nebeneinander aufgestellt, um die beiden Männer auf- und abzuziehen. Jeder unter ihnen mußte nun vor allen Dingen darauf bedacht sein, sich auf dem schneebedeckten, hartgefrorenen Boden einen möglichst sichern Standpunkt zu suchen, da das unbedeutendste Ausgleiten, einige Fuß von der Schlucht entfernt, für Alle verderbenbringend werden konnte; jede Bewegung mußte berechnet und mit Sicherheit ausgeführt werden.

Zuerst bereitete sich der Adjutant Schoell’s, der erwähnte Speiser, zur frostigen Höllenfahrt vor. An das Ende des Seils wurde ein breiter Lederriemen, dem Zuggeschirre eines Pferdes entnommen, derart befestigt, daß er eine Schlinge bildete, in welche sich der Mann hineinsetzte; um die Oberschenkel und den Leib liefen Stricke, mit denen er an das Seil befestigt wurde, denn da das Seil beim Hinablassen sich beständig dreht, so liegt die Möglichkeit sehr nahe, daß den Betreffenden ein kaum zu vermeidender Schwindel in einen Zustand der Passivität versetzt, der ohne die äußersten Vorsichtsmaßregeln unbedingt verderbenbringend wäre.

Speiser war festgemacht; nochmals wurden alle Knoten untersucht; die Männer am Rande der Schlucht zogen das Seil straff an, und Speiser rutschte langsam dem gähnenden Schlunde zu. Jetzt löste sich ein Theil der Schneefläche los und fiel zerstäubend in die Tiefe, und nun hing der Kühne zwischen Himmel und Erde. Langsam ging’s abwärts; oftmals legte sich der Führer der Expedition oben dicht am äußersten Rande der Zwing auf den Bauch, um den Niedergang des immer kleiner werdenden Körpers zu beobachten. Kein Wort wurde gesprochen; die am Seile Beschäftigten blickten nur auf die Hand ihres Führers, um das Zeichen zum Stillhalten oder langsam Ablassen abzunehmen. Nach einer langen Zeit – das Ablassen hatte mit den nöthigen Pausen beinahe eine halbe Stunde in Anspruch genommen – erscholl aus der Tiefe ein schwacher Laut. Das Seil lockerte sich, und die oben Stehenden hatten die Gewißheit, daß der Reisende glücklich angelangt sei. Man ließ nun ein zweites Seil hinab, um den Hirsch daran heraufziehen zu können, und harrte ruhig der Entwickelung der Dinge.

Der Mann in der Unterwelt hatte aber keine leichte Arbeit. Wohl lag dicht vor ihm der getödtete Hirsch, welcher auf der einen Seite schon mit einer mehrere Zoll dicken Eisdecke überzogen war, allein zwischen ihm und dem Gegenstande seiner Thätigkeit brauste der Wildstrom; nirgends hatte er den geringsten Halt an den eisbedeckten Wänden, und von oben her drohte eine furchtbare Gefahr, die man vorher wohl nicht in Erwägung gezogen hatte. Von den Wänden herab hingen nämlich in der sonderbarsten Aufeinanderthürmung riesenhafte Eiszapfen, die sich jeden Augenblick loslösen konnten und mit ihrer Wucht den unten Stehenden dann in Atome zerschmettern mußten; an ein Ausweichen in diesem Falle war natürlich nicht zu denken. Eine ebenso unerwartete Schwierigkeit mußten diese Eisgebilde beim Hinaufziehen des Hirsches bereiten. Nach ungeheuerer Anstrengung und stundenlangen Versuchen gelang es dem unermüdlichen Manne endlich, die Hinterläufe des Hirsches zu erreichen und durch die Hacksen ein Seil zu ziehen, so daß sein Zweck als erreicht angesehen werden konnte. Er gab das Zeichen zum Aufziehen und verließ den Platz, nachdem er zwei und eine halbe Stunde unten in der Zwing, theilweise im Wasser stehend, verbracht hatte. Langsam ging es aufwärts, und mit der größten Vorsicht mußte er laviren, um den drohenden Eisklippen zu entgehen; endlich kam er halberfroren bei seinen Gefährten an und erstattete Bericht, nachdem der landesübliche Enzianer die eingeschlafenen Lebensgeister wieder aufgeweckt hatte. Nun galt es, den Hirsch heraufzubringen, aber das war nicht möglich, ohne daß Jemand die Leitung der Last von unten übernahm, was eine ungleich schwierigere Sache war.

Nun machte sich Schoell selbst an’s Werk und trat die Fahrt in die Schlucht an. Er verfehlte jedoch nicht, beim Abwärtsgleiten mit den Füßen so viele Eiszapfen wie möglich wegzustoßen, und war deshalb in beständig schaukelnder Bewegung; daß dieses Manöver die Bedenklichkeit seiner Lage wesentlich erhöhte, bedarf keiner Auseinandersetzung; im Hinblick darauf war es nöthig, die Vorsichtsmaßregeln oben zu erhöhen. Endlich war alles in Ordnung, und nun mußte man mit dem Aufziehen der doppelten, ja man darf sagen der vierfachen Last – denn der Hirsch wog ehrliche drei Centner – beginnen. Anfangs ging es leidlich; Schoell wußte durch alle möglichen Wendungen die so schwer erkaufte Beute über bedeutende Hindernisse, als da waren Felsvorsprünge, Eiszapfen und Eisspalten, wegzubugsiren; allein, schon beinahe am Ende des Weges angelangt, verhängte sich der Hirsch derart, daß es unmöglich war, denselben weiter zu bringen. Alle Anstrengungen der oben Ziehenden und alle Bemühungen Schoell’s waren fruchtlos. Zudem durfte Schoell nicht wagen, seine riesige Kraft voll in Anwendung zu bringen, da die ungeheuere Spannung wahrscheinlich ein Zerreißen der zur Befestigung verwendeten Seile zur Folge gehabt hätte. Nur eine Gewichtsverringerung konnte die Calamität heben. Schoell besaß Geistesgegenwart und Kaltblüthigkeit genug, einen Ausweg zu finden. Durch Zeichen nach oben sich verständlich machend, dirigirte er seine Fahrt so, daß er ganz nahe zum Körper des Hirsches kam; hier zog er sein Messer und fing in dieser Situation an, den Hirsch aufzubrechen und kunstgerecht auszuweiden.

Das war wahrlich ein Stück Arbeit, um das ihn sicherlich kein Jäger beneidet hätte, und schwerlich dürfte der Fall je einmal sich ereignet haben, daß diese wichtige waidmännische Handlung an solchem Orte und unter solchen Umständen vorgenommen worden ist. Wer zu ermessen vermag, welcher Kraftaufwand und welche Geschicklichkeit dazu gehören, ein Thier von

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_519.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)