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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


noch zu bedenken, daß bei diesem Kletterspiel auch eine arge Täuschung mit unterlaufen kann. Gar manchmal steigt die Grasmücke in die Luft, um sich nur eine Mücke herunter zu holen, und der Spatz, um einen Maikäfer zu fangen. Da ist denn gar keine Poesie mehr im Spiele. Wie gesagt, begleitet die Frau Lerche den Herrn Gemahl nicht bei seiner Himmelskletterei; sie ist viel zu züchtiger Art und zu wohl erzogen. Sie weiß, es schickt sich nicht für eine solide Frau – mit Ausnahme einer kurzen Zeit, nämlich in ihrem Honigmonat. Dann steigt auch sie und kreist mit ihm hoch oben im neckischen Spiel, und das sind dann die Lichtpunkte, die herrlichsten, glückseligsten Momente in ihrem sonst so sorgenreichen Dasein.




„Der Deutsche des Herrn Dumas“.
Pariser Skizze von Ernst Eckstein.


Es war im Sommer des Jahres 1857. Auf dem Deck eines Omnibus der Linie Odéon-Clichy saß ein junger Mann von ziemlich verwahrlostem Aeußeren. Seine Kleider waren allerdings von dem Zuschnitte Derer, die in einem Polizeiberichte zu der Bemerkung Anlaß geben: „Er schien den besseren Ständen anzugehören“; aber, wie der berühmte Mantel des Kriegers, hatten sie manchen Sturm erlebt. Und die Spuren dieser rühmlichen Campagne malten sich in jeder Falte so ausdrucksvoll, daß nur die äußerste Noth des Besitzers ihre Pensionsberechtigung unbeachtet lassen konnte. Ein lebensmüder Hut, wehmuthsvoll auf das linke Ohr gesetzt, und ein phantastischer Regenschirm vollendeten das Bild eines Jünglings, der bezüglich seiner Finanzen sehr wenig Vertrauen einflößte. Nur in dem geistvollen, grauen Auge blitzte ein verheißendes Etwas, eine ungebändigte Energie, die ein Optimist zu Gunsten der Zukunft hätte ausdeuten können. „Gebt mir einen festen Punkt,“ so lautete die stumme Sprache dieser Augen, „und ich hebe Euch eine Welt aus den Angeln; versetzt mich in das richtige Element, und ich werde in Kürze als Triumphator auf dieses Uebergangsstadium herablächeln.“

Jetzt erhob er sich, kletterte von dem Deck herab und bog in die nächste Querstraße ein. Vor einem Kaffeehause machte er Rast. Noch einmal überlegte er sich alle Eventualitäten seines Vorhabens. Beim Bezahlen der Halbtasse, die er hastig hinuntergestürzt hatte, merkte er, daß sich seine ganze Barschaft noch auf fünf Franken belief.

„Jetzt oder nie!“ murmelte er vor sich hin. „Mißglückt mir dieser letzte Versuch, so bleibt mir nichts Anderes übrig, als die Hülfe der deutschen Botschaft in Anspruch zu nehmen und auf dem kürzesten Wege nach Deutschland zurückzukehren. Der schöne Traum von der Pariser Carrière ist dann ausgeträumt.“

Mit großen Schritten eilte er weiter. In der Rue d’Amsterdam erreichte er ein stattliches Haus. Herzklopfend stieg er die Treppe hinan, bis er vor einer Klingel Halt machte. Auf einem großen Messingschilde stand hier zu lesen: Alexandre Dumas. Der junge Mann zog die Schelle. Nach zwei Minuten erschien ein Diener, der die Frage: „Ist Herr Dumas zu Hause?“ mit der kurzen und nicht allzu höflich betonten Rede beantwortete: „Der Herr ist auf dem Lande.“

Die Thür fiel in’s Schloß. Der junge Deutsche starrte einige Minuten lang wie betäubt vor sich hin. Dann schwankte er langsam die Treppe hinab. Im Thorwege übermannte ihn das Gefühl der Verzweiflung so vollständig, daß ihm die Füße den Dienst versagten. Er lehnte sich an die Wand und verharrte hier zwei, drei Minuten wie geistesabwesend. Die niederschmetternde Gewißheit, daß auch dieser letzte Versuch für ihn fehlgeschlagen, schien seine letzte Kraft von Grund aus geknickt zu haben.

Und nun leugne man, daß unser Wille in den Verkettungen von Ursache und Wirkung ein flüchtiger Hauch, ein ohnmächtiges Atom, eine klägliche Null ist! Mit aller Kraft glauben wir an unserm Schicksale zu arbeiten: da kommt ein kleiner, unscheinbarer Zufall, zerreißt uns die ganze Rechnung und schleudert unser Lebensschiff, dem Steuer zum Trotz, in eine Richtung, die wir niemals geahnt haben.

Die Verzweiflung, die den Helden unserer Geschichte in dem Thorwege jenes Hauses der Rue d’Amsterdam erfaßte und ihn lähmend gegen die Wand drückte, diese kurze Anwandlung von zwei, drei Minuten sollte über sein ganzes zukünftiges Leben entscheiden. Hätte er in stürmischem Unmuthe das Haus verlassen, wäre er in hellem Grolle mit dem Schicksale auf die Straße geeilt, er säße jetzt vielleicht … Doch wir wollen unserer Erzählung nicht vorgreifen.

Wie er so dasteht, ertönen Schritte. Ein vornehm gekleideter Herr kommt die Treppe herab; als er die gebrochene Gestalt des jungen Deutschen wahrnimmt, tritt er näher herzu.

„Beim Himmel! Sie sind’s!“ ruft er theilnehmend. „Was machen Sie hier?“

Der junge Deutsche erkennt einen Herrn, den er seit Langem fast täglich im Kaffeehause getroffen.

„Ich habe zum zwanzigsten Male versucht, Herrn Alexander Dumas zu sprechen, und man hat mich zum zwanzigsten Male abgewiesen. Der Diener behauptet, Herr Dumas sei auf dem Lande.“

„Ah, so!“ erwidert der Herr lachend. „Wenn’s weiter Nichts ist – Herrn Dumas sollen Sie gleich sprechen. Warten Sie fünf Minuten!“ Spricht’s und steigt wieder die Treppe hinan. Kurze Zeit darauf kommt er zurück mit den Worten: „Herr Dumas erwartet Sie.“

Der junge Mann, der auf diese fast romanhafte Weise noch in der zwölften Stunde an’s Ziel gelangte, war kein Anderer als Albert Wolff, gegenwärtig der geistreiche Plauderer des Pariser „Figaro“, der Liebling der „großen Nation“, die Verkörperung des Pariser Esprits. Aus dem armen Jungen, der in stiller Wehmuth seine letzten fünf Franken musterte, ist der elegante Journalist geworden, der eine reizende Wohnung in der Rue Lafitte bewohnt, kostbare Gemälde und werthvolle Bücher aufstapelt und bei einem jährlichen Einkommen von vierzig- bis fünfzigtausend Franken auf seine Lehrjahre zurückblickt wiedersprüchwörtliche Pariser Kaufherr, der in Holzschuhen in die Hauptstadt gekommen.

Alexander Dumas empfing den jungen Deutschen im Badezimmer. Der dicke Herr saß bis an die Brust im Wasser und hielt sich mit den rundlichen Fingern rechts und links am Rande der Wanne fest. Er ließ sich durch den Eintritt Albert Wolff’s durchaus nicht stören, sondern wandte nur leise den Kopf und fragte mit gutmüthiger Bosheit:

„Was wollen Sie? Haben Sie Geld nöthig?“

„Allerdings,“ versetzte Wolff keck, „aber ich will Nichts geschenkt haben. Ich will arbeiten.“

„So! Arbeiten! Was für ein Fach haben Sie?“

„Ich komme in der Absicht, das Uebersetzungsrecht Ihrer neuen Dramen zu erwerben. Ich bin jung und vom besten Willen beseelt, habe mich schon mehrfach nicht ohne Erfolg als Journalist und Schriftsteller versucht und glaube die Aufgabe befriedigend lösen zu können. Ich verspreche Ihnen die Hälfte des Erträgnisses. Auf keinen Fall riskiren Sie etwas.“

„Ah,“ rief Dumas, indem er sich in der Wanne aufrichtete, „Sie sind ein Deutscher. Ein philosophisches Volk, diese Teutonen! Eine großartige Literatur! … Drehen Sie sich um, mein Junge! Ich steige heraus. … Lessing, der deutsche Shakespeare. … Treten Sie abseits! Ich mache Sie naß. Minna von Barnhelm, ein gutes Lustspiel, etwas veraltet, aber voll brillanter Effecte. Dergleichen würde auch bei uns Etwas machen. Hätte nicht übel Lust, das Ding zu bearbeiten. Ah, und Schiller, der ist mein Liebling. So! Sie können sich umdrehen.“

Albert Wolff erblickte jetzt den Verfasser der „Drei Musketiere“, in ein langfasriges Laken gehüllt, wie er im Begriff stand, die Strümpfe anzuziehen, – keine leichte Aufgabe bei seiner Corpulenz. Unter dem Ankleiden fuhr Dumas fort, sich in Aphorismen über das deutsche Theater zu ergehen. Er bekundete bei diesen Auslassungen eine echt französische Unkenntniß.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_505.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)