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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Und warum bin ich nicht zum Lernen angehalten worden?“ fragte der junge Nordeck plötzlich, indem er trotzig die Arme übereinander schlug und dicht vor seinen Pflegevater hintrat. Dieser sah ihn mit starrer Verwunderung an.

„Ich glaube, der Junge will mir Vorwürfe machen, weil ich ihm in allen Stücken den Willen gethan habe,“ rief er erzürnt.

„Nein,“ entgegnete Waldemar kurz. „Du hast es gut gemeint, Onkel, aber Du weißt nicht, wie mir zu Muthe ist, wenn ich sehe, daß Leo mir in allen Stücken voraus ist, wenn ich fortwährend von der Nothwendigkeit seiner weiteren Ausbildung höre, und dabeistehe und – aber das soll ein Ende nehmen. Ich gehe auch auf die Universität.“

Herr Witold hätte vor Schreck beinahe das Sophakissen fallen lassen, das er sich eben zurecht legen wollte.

„Auf die Universität?“ wiederholte er.

„Gewiß, Doctor Fabian spricht ja schon seit Monaten davon.“

„Und Du hast Dich seit Monaten entschieden geweigert.“

„Das war früher – jetzt denke ich anders darüber. Leo soll schon im nächsten Jahre zur Universität, und wenn er mit achtzehn Jahren reif dafür ist, so ist es für mich wahrhaftig die höchste Zeit. Ich will nicht immer und ewig hinter meinem jüngeren Bruder zurückstehen. Morgen spreche ich mit Doctor Fabian. – Und jetzt werde ich einmal selbst nach den Ställen hinübergehen und sehen, ob der Normann endlich gesattelt ist. Mir reißt die Geduld bei dem langen Warten.“

Er hatte bei den letzten Worten seinen Hut vom Tische genommen und stürmte nun in voller Ungeduld hinaus. Herr Witold blieb auf dem Sopha sitzen; er hielt das Kissen noch in der Hand, aber er dachte nicht mehr daran, es sich zurecht zu legen; mit der Mittagsruhe schien es vorläufig vorbei zu sein.

„Was ist mit dem Jungen vorgegangen? – Doctor, was haben sie mit dem Jungen angefangen?“ rief er zornig dem ganz harmlos eintretenden Doctor Fabian entgegen.

„Ich?“ fragte dieser erschrocken. „Nichts, Herr Witold. Waldemar kam ja soeben von Ihnen.“

„Ach, ich meine ja gar nicht Sie,“ sagte der Gutsherr ärgerlich. „Ich sprach von der Baratowski’schen Gesellschaft. Seit die den Waldemar in Händen hat, ist er gar nicht mehr zu regieren. Denken Sie nur, er will auf die Universität.“

„Wirklich?“ rief der Doctor erfreut.

Durch diese Antwort wurde Herr Witold nur noch mehr erbost. „Darüber freuen Sie sich wohl ganz außerordentlich?“ grollte er. „Es macht Ihnen wohl sehr großes Vergnügen, daß Sie von hier wegkommen und ich dann mutterseelenallein in Altenhof sitze?“

„Sie wissen ja, daß ich den Universitätsbesuch stets befürwortet habe,“ vertheidigte sich der Erzieher. „Ich habe leider nie Gehör gefunden, und wenn es wirklich die Frau Fürstin ist, die Waldemar endlich dazu vermocht hat, so kann ich ihren Einfluß nur für einen segensreichen halten.“

„Hol’ der Kukuk den segensreichen Einfluß!“ rief der Gutsherr, indem er das unglückliche Sophakissen mitten in das Zimmer schleuderte. „Wir werden schon sehen, was dahinter steckt. Irgend etwas ist mit dem Jungen passirt. Er läuft herum, als ob er am hellen lichten Tage träumte, kümmert sich um nichts mehr und giebt, wenn man ihn fragt, ganz verkehrte Antworten. Wenn er auf die Jagd geht, kommt er mit leeren Händen zurück, er, der sonst immer trifft, und jetzt hat er es auf einmal mit dem Studiren bekommen und ist nicht wieder davon abzubringen. – Ich muß heraus haben, was diese Veränderung bewirkt hat, und Sie sollen mir dabei helfen, Doctor. Sie müssen nächstens mit nach C.“

„Um des Himmelswillen nicht!“ protestirte Doctor Fabian. „Was soll ich dort?“

„Aufpassen!“ sagte der Gutsherr wichtig. „Und mir dann Nachricht bringen. Da drüben passirt etwas, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich selbst kann nicht hinüber, denn ich stehe mit der Fürstin so zu sagen auf dem Kriegsfuße, und wenn wir beide zusammengerathen, giebt es Lärm. Ich kann ihre Bosheiten nicht vertragen und sie nicht meine Grobheiten, aber Sie, Doctor, sind neutral in der Sache; Sie sind der rechte Mann.“

Der Doctor wehrte sich mit allen Kräften gegen die ihm gestellte Zumuthung. „Aber ich verstehe mich ganz und gar nicht auf dergleichen,“ klagte er. „Sie kennen ja meine Aengstlichkeit, meine Zerstreutheit im Verkehr mit Fremden, und nun vollends der Frau Fürstin gegenüber. Auch wird Waldemar nie zugeben, daß ich ihn begleite –“

„Hilft Ihnen alles nichts!“ unterbrach ihn Witold dictatorisch. „Sie müssen nach C. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, Doctor. Sie werden mich doch nicht im Stiche lassen?“ Und nun stürmte er mit einer solchen Menge von Bitten, Vorwürfen und Vorstellungen auf den armen Doctor ein, daß dieser, halb betäubt, sich endlich gefangen gab und alles versprach, was man nur von ihm verlangte.

Da ließen sich Hufschläge draußen auf dem Hofe vernehmen. Waldemar saß bereits zu Pferde; er gab dem Thiere die Zügel, und ohne auch nur einen Blick nach den Fenstern zurückzuwerfen, sprengte er davon.

„Da jagt er hin,“ sagte Witold, halb grollend und halb schon wieder voll Bewunderung für seinen Pflegesohn. „Sehen Sie nur, wie der Junge zu Pferde sitzt, wie aus Erz gegossen! Und es ist doch wahrhaftig keine Kleinigkeit, den Normann zu bändigen.“

„Waldemar hat eine eigene Passion, stets nur junge, wilde Pferde zu reiten,“ meinte der Doctor ängstlich. „Ich begreife nicht, weshalb er sich gerade den Normann zum Liebling ausersehen hat. Es ist das unbändigste und widerspänstigste Thier im ganzen Stalle.“

„Eben deshalb!“ lachte der Gutsherr. „Sie wissen ja, er muß etwas zu bezwingen und zu bändigen haben, sonst macht ihm die Sache keinen Spaß. Aber nun kommen Sie, Doctor! Wir wollen Ihre Mission überlegen; Sie müssen die Sache diplomatisch anfangen.“

Damit ergriff er den Doctor beim Arme und zog ihn zum Sopha. Der arme Fabian folgte geduldig. Er hatte sich in alles ergeben, und sagte nur halblaut mit kläglichem Ausdrucke: „Ich ein Diplomat, Herr Witold? Daß Gott erbarm!“ –

Die Baratowski’sche Familie hatte von jeher nur wenig Antheil an dem eigentlichen Badeleben von C. genommen, und seit der letzten Zeit zog sie sich noch mehr als sonst davon zurück. Waldemar fand sie bei seinen jetzt so häufigen Besuchen stets unter sich. Nur Graf Morynski war schon nach wenigen Tagen wieder abgereist; es war allerdings seine Absicht gewesen, seine Tochter sogleich mit sich zu nehmen, aber die Fürstin fand, daß ein längerer Aufenthalt an der See für Wanda’s Gesundheit ganz unbedingt nothwendig sei, und wußte ihren Bruder zu bestimmen, daß er in die verlängerte Trennung willigte. Er hatte sich dem Wunsche der Schwester gefügt und war vorläufig allein nach Rakowicz zurückgekehrt, wo geschäftliche Angelegenheiten seine Gegenwart erforderten.

Der junge Nordeck hatte trotz der Mittagshitze den Ritt in stürmischer Eile zurückgelegt und trat jetzt in das Zimmer der Fürstin, die er an ihrem Schreibtische fand. Wäre Leo so glühend erhitzt bei ihr eingetreten, sie hätte sicher ein Wort der Sorge oder der Ermahnung für ihn gehabt. Waldemar’s Aussehen blieb, wenn auch nicht unbemerkt, doch gänzlich unerwähnt. Es war eigenthümlich, daß auch jetzt, wo Mutter und Sohn sich doch so häufig sahen, nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen Wurzel fassen wollte. Die Fürstin behandelte Waldemar stets mit der äußersten Rücksicht, und er bemühte sich, sein schroffes Wesen ihr gegenüber etwas zu mäßigen, aber es lag auch nicht die leiseste Spur von Herzlichkeit in diesem beiderseitigen Bemühen, ein gutes Einvernehmen aufrecht zu erhalten. Sie konnten nun einmal nicht über die unsichtbare Kluft hinweg, die zwischen ihnen lag, wenn eine fremde Macht sie auch für den Augenblick überbrückt hatte. Die gegenseitige Begrüßung war genau so kühl, wie beim ersten Wiedersehen, nur daß Waldemar’s Augen jetzt unruhig fragend im Zimmer umherschweiften.

„Du suchst Leo und Wanda?“ fragte die Fürstin. „Sie sind bereits unten am Strande und wollen Dich dort erwarten. Ihr habt ja wohl eine Segelfahrt miteinander verabredet?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_498.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)