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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 29.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Es war in den Vormittagsstunden; in dem Balconzimmer der Villa, welche die Baratowskische Familie in C. bewohnte, befand sich augenblicklich nur die Fürstin. Sie war in einen Brief vertieft, den sie vor einer Stunde empfangen hatte; er enthielt Waldemar’s Anzeige, daß er heute kommen werde und seinem Boten unmittelbar auf dem Fuße folge. Die Mutter blickte so unverwandt auf das Schreiben nieder, als wolle sie aus den kurzen kalten Worten oder aus den Schriftzügen den Charakter des Sohnes herauslesen, der ihr so gänzlich fremd geworden war. Seit ihrer zweiten Vermählung hatte sie ihn nur selten und flüchtig gesehen, und seit sie in Frankreich lebte, hatte fast jeder Verkehr zwischen ihnen aufgehört. Das Bild, das sie von dem zehnjährigen Knaben noch deutlich in der Erinnerung trug, war abstoßend genug, und was sie über den Jüngling in Erfahrung gebracht, stimmte nur zu sehr damit überein. Trotzdem galt es, sich den Einfluß auf ihn um jeden Preis zu sichern, und die Fürstin war nicht die Frau, vor einer Aufgabe zurückzuschrecken, deren Schwierigkeit sie sich keineswegs verhehlte. Sie war aufgestanden und ging nachdenkend im Gemache auf und nieder, als ein rascher lauter Schritt im Vorzimmer sie innehalten ließ. Gleich darauf öffnete Pawlick die Thür und meldete „Herrn Waldemar Nordeck“. Dieser trat ein. Die Thür schloß sich wieder hinter ihm, und Mutter und Sohn standen einander gegenüber.

Waldemar that noch einige Schritte vorwärts und blieb dann plötzlich stehen. Die Fürstin war im Begriff, ihm entgegen zu gehen, aber auch sie hemmte ihren Schritt. Es war, als ob gleich im ersten Momente des Wiedersehens sich eine endlose Kluft zwischen den Beiden öffne, als ob Alles, was jemals Feindseliges und Fremdes zwischen ihnen gelegen, sich wieder aufbäume – dieses secundenlange Schweigen und Fernhalten sprach deutlicher als Worte; es zeigte, daß weder in dem Herzen der Mutter noch dem des Sohnes sich eine einzige Stimme regte. Die Fürstin überwand die Zurückhaltung zuerst. „Ich danke Dir, mein Sohn, daß Du gekommen bist,“ sagte sie, ihm die Hand entgegenstreckend.

Waldemar kam langsam näher; er berührte die dargebotene Hand nur einen Augenblick lang und ließ sie dann sofort wieder fallen. Der Versuch zu einer Umarmung wurde von keiner Seite gemacht. Die Gestalt der Fürstin war trotz der dunklen Trauerkleidung imponirend schön, als sie so, vom hellen Sonnenlichte umflossen, dastand, aber das schien nicht den geringsten Eindruck auf den jungen Mann zu machen, obgleich er sie unverwandt ansah. Auch der Blick der Mutter haftete auf seinem Gesicht, aber sie suchte vergebens nach einem einzigen Zuge, der ihr angehörte oder wenigstens an sie erinnerte. Nichts trat ihr dort entgegen, als die sprechende Aehnlichkeit mit dem Manne, den sie noch im Tode haßte – der Sohn war das Ebenbild seines Vaters, Zug für Zug.

„Ich hoffte sicher auf Dein Erscheinen,“ fuhr die Fürstin fort, indem sie sich niederließ und ihm mit einer Handbewegung den Platz an ihrer Seite anwies – Waldemar blieb trotzdem stehen.

„Willst Du Dich nicht setzen?“ Die Frage klang sehr ruhig, aber sie ließ keine Verneinung zu und erinnerte den jungen Nordeck daran, daß er füglich nicht während des ganzen Besuches stehen bleiben könne, aber die erneute Handbewegung blieb unbeachtet. Er zog einen Sessel heran und setzte sich der Mutter gegenüber. Der Platz an ihrer Seite blieb leer.

Die Demonstration war unzweideutig – einen Augenblick lang preßten sich die Lippen der Fürstin fester auf einander, aber ihr Gesicht blieb unbewegt. Waldemar saß jetzt gleichfalls im vollen Tageslichte. Er trug auch heute eine Art Jagdanzug, der freilich diesmal nicht Spuren der Jagd zeigte, aber auch keine besondere Sorgfalt verrieth und von einer eleganten Reitkleidung himmelweit verschieden war. In der Linken, die wie die Rechte ohne Handschuhe war, hielt er den runden Hut und die Reitpeitsche. Die Stiefel trugen noch den ganzen Staub eines zweistündigen Rittes; der Reiter hatte es nicht für nöthig befunden, ihn zuvor abzuschütteln, und die Art, wie er sich setzte, verrieth die vollste Unbekanntschaft mit den Gewohnheiten des Salons. Die Mutter sah das Alles mit einem einzigen Blicke, aber sie sah auch den starren Trotz, mit dem ihr Sohn sich gewaffnet hatte. Er leuchtete deutlich genug aus seinen Augen; leicht war ihre Aufgabe nicht – das fühlte sie.

„Wir sind uns fremd geworden, Waldemar,“ begann sie, „und ich kann bei diesem ersten Wiedersehen von Dir noch nicht die Umarmung des Sohnes verlangen. Ich habe Dich ja seit Deiner Kindheit fremden Händen überlassen müssen. Man hat der Mutter nie erlaubt, ihre Pflichten und ihre Rechte bei Dir auszuüben.“

„Ich habe bei meinem Onkel Witold nichts vermißt,“ entgegnete Waldemar herb. „Und jedenfalls war ich bei ihm heimischer, als ich im Hause des Fürsten Baratowski gewesen wäre.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_481.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)