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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Zur Säcularfeier einer Republik.
Von Friedrich Kapp.
(Schluß.)


Es war übrigens hohe Zeit, daß dieser unerläßliche Schritt nicht länger verzögert wurde. Der Congreß mußte befürchten, seinen Einfluß zu verlieren und von den ungestümen Elementen ganz verdrängt zu werden, wenn er jetzt nicht energisch vorging. Schon einen Tag nach seinem Beschlusse vom 10. Juni stimmten zweitausend Philadelphier Freiwillige zu Gunsten der sofortigen Unabhängigkeitserklärung ab; von dieser großen Zahl waren nur vier Officiere und fünfundzwanzig Gemeine dagegen. Jefferson begab sich unverzüglich an die Arbeit und trug seinen Collegen gegen Ende Juni seinen Entwurf vor, welcher mit nur unbedeutenden Veränderungen von ihnen angenommen wurde. Dagegen erfuhr er während einer dreitägigen Debatte im Hause so heftige und scharfe Angriffe, daß Jefferson Mühe hatte, sich zu vertheidigen und daß er schließlich nur durch Franklin’s tröstenden Zuspruch aufrecht erhalten werden konnte. Der Congreß unterdrückte achtzehn Stellen, veränderte zehn und machte sechs Zusätze, welche sich übrigens als wesentliche Verbesserungen herausstellten. Es ist ein häufig vervielfältigtes Facsimile des ersten Jefferson’schen Entwurfes erhalten, so daß man überall den ursprünglichen Text mit der endgültigen Fassung vergleichen kann. Die Verhandlungen selbst dauerten vom 2. bis 4. Juli. Jefferson pflegte später scherzend zu erzählen, daß sie nur durch einen rein äußerlichen Zufall abgekürzt worden seien. Der 4. Juli war nämlich ein sehr heißer Tag und für den im engen Saale tagenden Congreß deshalb besonders unangenehm, weil von einem benachbarten Pferdestalle aus Schwärme von Fliegen durch die offenen Fenster eindrangen und die ehrenwerthen Abgeordneten durch die seidenen Strümpfe in die Beine stachen.

Die Urkunde selbst zerfällt in zwei innerlich und äußerlich von einander geschiedene Theile, in die Einleitung, welche aus einem idealen Naturrechte den Anspruch der Colonisten auf Freiheit und Unabhängigkeit herleitet, und in die Ausführung, welche aus dem Common Law heraus die eigentlichen Beschwerdepunkte gegen die englische Regierung formulirt, während die Schlußsätze die Berechtigung zur Bildung eines souveränen Staates erklären. Was dem Documente die Bewunderung namentlich seiner europäischen Zeitgenossen eingebracht hat und was noch heute die Begeisterung aller politischen Romantiker erweckt, das ist die berühmte naturrechtliche Einleitung, welche ganz im Gegensatz zu früheren und späteren amerikanischen Staatsschriften die Abstractionen der englischen und französischen Philosophie als Sätze von angeblich unumstößlicher Gültigkeit aufstellt. Es sind die bekannten Worte im Eingange, über welche hinaus die wenigsten Leser der Unabhängigkeitserklärung gedrungen sind. Sie lauten:

„Wenn es im Laufe menschlicher Ereignisse für ein Volk nöthig wird, die staatliche Bande, wodurch es mit einem andern verbunden war, aufzulösen und unter den Mächten der Erde einen selbstständigen und ebenbürtigen Rang einzunehmen, zu welchem es durch die Gesetze der Natur berechtigt ist, so erheischt es die dem Urtheile der Welt geziemende Achtung, die Ursachen dieser Trennung öffentlich darzulegen.

Wir halten die nachfolgenden Wahrheiten für durch sich selbst erwiesen, daß alle Menschen einander gleich erschaffen, daß ihnen von ihrem Schöpfer gewisse unveräußerliche Rechte verliehen und daß unter diesen Rechten Leben, Freiheit und Streben nach Glückseligkeit die vornehmsten sind, daß zur Sicherstellung dieser Rechte unter den Menschen Regierungen eingesetzt sind, welche ihre rechtmäßige Gewalt von der Zustimmung der Regierten herleiten und daß, wenn je eine Regierungsform diesen Rechten verderblich zu werden anfängt, das Volk das Recht hat, sie zu ändern oder abzuschaffen und dagegen eine neue einzusetzen, deren Grundlage und Befugnisse von der Art sind, wie sie ihm zur Erlangung seiner Sicherheit und seines Glückes am zuträglichsten erscheinen. Zwar gebietet die Klugheit, schon seit langer Zeit bestehende Regierungen nicht aus geringfügigen und vorübergehenden Ursachen abzuändern. So hat es denn auch die Erfahrung bewiesen, daß die Menschen lieber die Uebel dulden, so lange sie noch erträglich sind, als daß sie durch Abschaffung der Regierungen, an die sie gewöhnt sind, sich selbst zum Rechte verhelfen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißbräuchen und Anmaßungen, welche allemal ein und dasselbe Ziel verfolgen, die Absicht verräth, das Volk einem unumschränkten Despotismus zu unterwerfen, so hat es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Joch einer solchen Regierung abzuschütteln und sich nach anderen Wächtern seiner künftigen Sicherheit umzusehen. Von dieser Art ist das langmüthige Dulden dieser Pflanzungen bisher gewesen, und von dieser Art ist nunmehr die sie zwingende Nothwendigkeit, ihr ehemaliges Regierungssystem abzuändern.

Die Geschichte des dermaligen Königs von Großbritannien ist eine Geschichte wiederholter Verletzungen und Anmaßungen, die allesammt geradezu auf Gründung einer unbeschränkten Tyrannei über diese Staaten abzielen. Zum Beweise davon wollen wir der unparteiischen Welt folgende Thatsachen vorlegen.“ (Hier folgen nun die einzeln aufgeführten siebenundzwanzig Beschwerden gegen Georg den Dritten.)

Jefferson war ein viel zu gut geschulter Advocat, eine zu nüchtern praktische Natur, als daß er das schwere Geschütz seiner Beweisführung, Präcedenzfälle und Herkommen, wie sie auf das Verständniß jedes Engländers wirken, verschmäht hätte; allein er führte es wohlweislich erst in zweiter Linie auf, weil das positive Recht ihm selbstredend keine Rechtfertigung für den offenen Aufstand lieferte. Um die Gunst der englischen Opposition und die Sympathien des gebildeten Europas für sich zu gewinnen, mußte die Forderung der unveräußerlichen Menschenrechte in den Vordergrund treten. Wie die ganze Rousseau’sche Schule, wie bei uns Schiller und die hervorragenden Geister der Nation, so glaubten auch die gebildeteren Amerikaner im Gegensatze zu der schlechten Wirklichkeit, dem geschichtlich Gewordenen, an die Wahrheit und Berechtigung ihrer naturrechtlichen Phantasien. Nichts ist deshalb auch ungerechtfertigter, als Jefferson und Genossen der beabsichtigten Täuschung anzuklagen, als sie, wie Schlosser es z. B. thut, zu beschuldigen, daß sie ihre Unabhängigkeitserklärung nur zu dem Zwecke in dem besondern Stile und Geiste ihrer Zeit erlassen hätten, um ihre Sache in Frankreich salonfähig zu machen.

Natürlich läßt sich vom Standpunkte der absoluten Kritik aus fast jeder einzelne Satz der Einleitung bemängeln. Es ist, um hier beispielsweise bei dem zweiten Einleitungssatze stehen zu bleiben, ein Irrthum jener Zeit und keineswegs eine durch sich selbst erwiesene Wahrheit, daß alle Menschen einander gleich erschaffen seien, allein selbst wenn sie es wären, so könnte sie doch nicht gleich bleiben, und so müßten sie höchstens von dem Gesetze gleich behandelt werden. Was ist ferner Freiheit, was heißt das Streben nach Glück, wer bestimmt sein Maß, und ist es für alle Volksclassen dasselbe? Ebenso wenig stichhaltig ist die Rousseau’sche Vertragstheorie von der Entstehung des Staates. Sie wird offenbar von den Colonisten nur angerufen, weil sie nur mittels ihrer den Beweis für die Gerechtigkeit ihrer Sache führen konnten.

Allein wie dem auch sei, die eigentliche Bedeutung der Unabhängigkeitserklärung lag darin, daß sie zuerst die Stimmungen, Strömungen und Ideen der Zeit unter einem einzigen leitenden Gesichtspunkte zusammenfaßte, daß sie der unsinnigen Anschauung von einer gesetzlichen Revolution, welche seit der Thronbesteigung William’s und Mary’s in den englischen und amerikanischen Köpfen spukte, ein Ende machte und daß sie vor Allem eine klare, selbst dem beschränkten Urtheile verständliche Situation schuf.

Es ist bezeichnend für den Geist der ganzen amerikanischen Bewegung, daß nicht der 19. April 1775 mit seinen Gefechten bei Lexington und Concord, sondern der 4. Juli 1776 mit seiner theoretischen Rechtfertigung der Ereignisse den Geburtstag des neuen Freistaates bildet. Jetzt war allerdings erst die letzte Brücke abgebrochen; jetzt erst waren die Halben, Lauen und Verräther von den ehrlichen Freunden der Volkssache geschieden; jetzt erst war der bewußte Uebergang von colonialer Abhängigkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_467.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)