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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Elisabeth Buerstenbinder.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

des Herzens und das Leben der Gesellschaft zu schildern, wo es auf feine Beobachtungsgabe, auf Tact und Anmuth der Darstellung ankommt, da ist das Weib überall an seinem Platze. Es leuchtet ein, daß somit die Novelle und ihre Nachbargebiete zu den natürlichen Tummelplätzen weiblicher Production gehören, eine Behauptung, die unsere heutige Novellistik vollauf bestätigt; denn auf keinem Gebiete des gesammten modernen Schriftthums dürften die Koryphäen der literarischen Welt so mühelos „bunte Reihe“ machen können, wie gerade auf diesem, ja, die Befürchtung liegt nahe, daß bei einer Gesammt-Assemblée der novellistischen Notabilitäten von heute nicht einmal auf jede Dame ein Herr kommen würde.

Unter den Erzählern der „Gartenlaube“ – denn diese liegen uns hier am nächsten – gebührt E. Werner neben der geistvollen E. Marlitt ein hervorragender Platz. Außer den weiblichen Eigenschaften einer leichtfüßigen Grazie des poetischen Styls und in einzelnen Momenten einer wahrhaft bestrickenden Anmuth in der stimmungsvollen Schilderung der Situationen steht ihrem Talente eine sittliche Energie und dramatische Kraft der Darstellung zu Gebote, welche den oft begangenen Irrthum erklärt: das Pseudonym E. Werner sei nicht der Schleier, hinter dem sich ein bei dem Gedanken an die Oeffentlichkeit erröthendes Mädchengesicht versteckt – es sei das Visir, welches die markigen Züge eines streitbaren Helden der Feder birgt.

Streitbar ist das Talent E. Werner’s in der That in allen seinen Aeußerungen; müssen doch die schlagfertige Opposition und feine Ironie gegenüber den Zuständen der modernen Gesellschaft, namentlich des Pfaffenthums und der Bureaukratie, als das eigentlich Treibende und Bewegende in der Production unserer Dichterin bezeichnet werden.

Abgesehen von zwei unbedeutenderen Erzählungen, einer größeren und einer kleineren, welche in einem süddeutschen Journale unter einem anderen Pseudonym erschienen, trat E. Werner zuerst mit der Novelle „Hermann“, und zwar in diesem Blatte, das sie seither zum ausschließlichen Schauplatze ihrer literarischen Thätigkeit gemacht hat, vor die Oeffentlichkeit. Diese ziemlich unscheinbaren Anfänge der literarischen Thätigkeit unserer Dichterin weisen mit keinem Zuge auf die Bedeutung ihrer spätem Leistungen hin. Aber – wie man ähnliche plötzliche Wandlungen schon oft erlebt hat – nach dem wenig verheißenden Frühling der Werner’schen Productionskraft überraschte uns ein um so üppiger sprießender Sommer mit voll ausgereiften Früchten voll Saft und Kraft: dem „Hermann“ folgte „Ein Held der Feder“.

Diese Erzählung zeigt uns die Verfasserin mit einem Schlage auf dem Höhepunkte ihrer dichterischen Vollkraft. Es würde uns zu weit führen, wollten wir in der gegenwärtigen Skizze, die nur ein flüchtiges Bild von der literarischen Bedeutung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_465.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)