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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Thürflügel drehte sich in den Angeln, und ich trat in den Betsaal des Rabbi.

Dieser Betsaal ist ein hohes, luftiges, mäßig geräumiges Gemach. In der Schulterhöhe sind die Wände mit Getäfel aus massivem Nußbaumholze umkleidet, das reich mit Kränzen Festons, Guirlanden und Blatt-Ornamenten, die schön in halb-erhabener Plastik aus dem Holze herausgeschnitten sind, erfüllt ist. Die Fenster- und Thürpfosten sind aus gleichem Materiale in ähnlicher Weise gearbeitet. Die Sopraparten und Karnieße sind wohl aus demselben Holze, aber in abweichendem, gothischem Stile ausgeführt, die freigelassenen Wandflächen mit einer hübschen gepreßten Goldtapete bekleidet; von der schön ornamentirten Decke schwebt ein Krystallleuchter nieder. Den Parquetboden deckt ein schwerer persischer Teppich. Weißlackirte Fauteuils, mit reicher Blumenornamentik geziert und mit rother Sammetpolsterung versehen, ein eleganter Bronzetisch mit Marmorplatte, ein Pult aus Olivenholz, auf dem ein schön geschriebenes „Sidur“ (Gebetbuch) in Einband von demselben Holze liegt, bildet das Meublement des, wie man sieht, mit aller modernen Eleganz ausgestatteten Gemaches. Der Eingangsthür gegenüber befindet sich, in die Wand gefügt, das Sanctuarium, die „Bundeslade“, die in blendendem Juwelenglanze schimmert.

Der Vorhang dieser Bundeslade hat unschätzbaren materiellen Werth. Die Grundfläche ist aus rothem Sammet gebildet; auf diese sind in Goldfäden die Gesetzestafeln, über dem siebenarmigen Leuchter von zwei heraldischen Löwen gehalten und von einer Königskrone überschwebt, gestickt. Weinblattgewinde, mit vollen großen Trauben untermischt, bildet die Umrahmung, während zierliche Linien-Ornamente die Zwischenräume ausfüllen. In den Reif der Krone ist ein mehr als daumnagelgroßer Sapphir eingesetzt und ein gleich großer Stein derselben Art deckt den oberen Fugenwinkel der beiden Gesetzestafeln. Der erstere ist viereckig, der letztere oval geschnitten. Ein noch größerer traubenförmiger Smaragd deckt den unteren Fugenwinkel der beiden Tafeln. Die Contourlinien derselben, sowie die Zahlbuchstaben der zehn Gebote sind mit kleinen Brillanten besetzt, der Reif der Krone, rechts und links des großen Sapphirs, mit etwas kleineren, aber noch immer recht gewichtigen Smaragden und Rubinen in wechselnder Folge. Die Zinkenreifen der Krone setzen sich aus dichtgereihten achteckigen Rubinen und großen orientalischen Perlen zusammen, und die Zinkenschließe bildet ein großer, tropfenförmiger, etwas wolkiger Smaragd. Die Köpfe, die Mähnen, die Tatzen und Schweif-Enden der Löwen sind gleichfalls reich mit Edelsteinen besetzt, die mit vielem Geschick zur Hebung und Markirung der Zeichnung verwendet wurden. Den Mittelpunkt der Mittelornamentik, die verschwenderisch mit Rubinen und Perlen ausgestattet ist, bildet ein taubeneigroßer, tropfenförmiger Sapphir, den ein leichter Wolkenstreif trübt und dem zwei noch größere schön geformte Perlen rechts und links zur Seite gesetzt sind. Der siebenarmige Leuchter hat gar keinen Juwelenschmuck. Das Weinblattgewinde ist dicht mit kleinen Smaragden besetzt, und die Trauben, die natürliche Größe haben, sind aus Perlen gebildet, die in lückenlos aneinander gestellten, gegen die Spitzen abgestuften Größenreihen gruppirt sind. Den Vorhang krönt eine schmale Draperie, gleichfalls aus rothem Sammet. Die Mitte derselben nimmt der juwelenbesetzte österreichische Reichsadler ein, mit einem Sapphir, der an Größe vermuthlich nur dem größten, den der Graf Xaver Branicki in Paris besitzt, nachsteht, auf der Brust und einem kleineren in der Krone. Die Weinblatt- und Traubenumrahmung des Vorhanges ist auf dieser Draperie wiederholt. Der Effect dieses Vorhanges läßt sich nicht schildern; das Auge wird von dem Glanze geblendet, und man schwindelt förmlich, wenn man es versucht, sich die Ziffer zu vergegenwärtigen, welche den Werth dieser Juwelen annähernd ausdrücken könnte. Nachdem ich diesen Vorhang bewundert hatte, forderten mich meine beiden Begleiter auf, den allgemeinen Betsal zu besichtigen, der durch eine Thür mit dem des Rabbi verbunden ist. Er bietet nichts sonderlich Bemerkenswerthes; eine Reihe kleiner Fenster mit mattgeschliffenen Scheiben über der Thür, welche die beiden Säle verbindet, erleichtern dem Rabbi die Gebete hören und ihnen folgen zu können, ohne von der Gemeinde gesehen zu werden.

In den Saal des Rabbi zurückgekehrt, fand ich einen Juden meiner wartend. Er machte einen tiefen Bückling und meldete, daß der Rabbi um meine Karte ersuchen lasse.

„Er kann ja nicht lesen,“ bemerkte ich ihm, als ich sie ihm einhändigte.

„Ober die Kinderleben, die könnens.“

In wenigen Minuten erschien dieser Bote wieder mit der Meldung, daß der Rabbi „sich freuen werde, den Herrn zu sehen.“

Das Gedränge im Hofe hatte mittlerweile noch zugenommen; es war ein unabsehbares Gewimmel. An Laternenpfählen, auf den Staketen, auf Prellsteinen, auf Dachrinnen hingen und standen bärtige Männer, sonst so ernstblickend, und kleine Jungen mit altklugen blassen Gesichtern; sie sahen mit fieberischer Neugier nach mir. Der Anprall der Menge nöthigte mich, mich in den Betsaal zurückzuflüchten. Der Zuruf meiner Führer blieb diesmal ohne Erfolg; die Menschenmasse schien undurchdringlich zu sein; ich sah mich in dem Tempel des Rabbi von Sadagóra von den frommen Pilgern, die zu ihm gewallfahrtet kamen, förmlich belagert. Doch es rückte bald Entsatz heran; eine Schaar „Meschorßim“ (Knechte) unter Führung einiger „Gaboim“ (Hausbeamte des Rabbi) brachen sich mit robusten Fäusten Bahn durch das Gedränge, nahmen mich in ihre Mitte, und kämpfend, stoßend, scheltend brachten sie mich langsam, Schritt um Schritt, durch diese Menschenfluth. An der Thür, durch die ich zuerst eintreten wollte, standen zwei Gaboim; sie rissen die Flügel auf und schlossen sie hinter mir. Ich befand mich in dem mit einfacher Eleganz möblirten Vorzimmer. Eine Minute später stand ich vor dem Rabbi von Sadagóra, dem fast abgöttisch verehrten Oberhaupte der jüdischen Chassidim-Secte, den frommer Glaube und religiöser Wahn Hunderttausender seiner Glaubensgenossen mit der Glorie überirdischer Heiligkeit und Wundermacht umgiebt, ihn zum Nachkommen David’s und zum Oberhaupte der Familie macht, welcher der Messias entstammen soll – ich stand vor dem „Zadik“ und „Bal-Schem“, dem „Gerechten“ und dem „Herrn Gottes“.

Nicht fern von der Stelle, aus der ich dem gegenwärtigen Oberhaupte des „neuen Essäerthums“ oder des „Chassidismus“ gegenüberstand, war diese Secte entstanden. Dort, wo allmählich und langsam die Steppe dem Gebirge entgegenschwillt, wo die Romantik der Gebirgswelt mit der Melancholie der Steppe zusammenklingt, ist der Geburtsort dieser neuen Secte. Zu Ausgang des siebenzehnten Jahrhunderts (um 1698) ward in irgend einem der armseligen Dörfchen dieses armen Landwinkels, an den Quellen des Pruth, zwischen den beiden Nestern Kuty und Kassow ein Judenknabe geboren, den das Geschick bestimmte, auf Jahrhunderte hinaus dem Gemüthsleben, der religiösen Anschauung, den socialen Verhältnissen von Millionen seiner Stammes- und Glaubensgenossen die verderblichste Richtung und Gestaltung zu geben. Früh verwaist, ohne Erziehung und ohne jenen Unterricht genossen zu haben, der die Judenknaben in Polen schon frühzeitig mit der Kenntniß der hebräischen Sprache und des Talmud vertraut macht, auf die karge Mildherzigkeit der Nebenmenschen angewiesen, trieb er sich ziellos in den Wäldern seiner Heimath herum, da und dort bettelnd, da und dort durch kleine Handlangerdienste sich ein Stückchen Brod erwerbend. In den armseligen Hütten der Bauern war er häufig Gast. Schwärmerischen Gemüthes und voll aufgeregter Phantasie, horchte er auf die Spukgeschichten und Zaubermärchen, die in den rauchigen Stuben erzählt wurden. Bei der „Rozumna Baba“, der „weisen Frau“, seines Dorfes stand er in besonders großer Gunst. Er ging mit ihr in den Wald und half ihr die Kräuter suchen, mit welchen sie, unter Hersagung von Beschwörungsformeln, ihre Wundercuren an Mensch und Vieh vollzog. Von ihr lernte er jene empirische Heilkunst, die in der Steppe zahllose hochverehrte Vertreter und Vertreterinnen hat. Einer derselben, ein gewisser Potobenko, der in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in einem Dorfe der Ukraine „curirte“, hatte eine ausgedehnte und einträgliche Praxis, wie sich ihrer nur wenige der berühmtesten Jünger Aesculaps zu erfreuen haben. Der Judenjunge Israel oder, wie man ihn hätschelnd nannte, „Isrulczie“, hatte in dem Umgange mit der Rozumna Baba die heilsame Kunst bald vollkommen inne und assistirte ihr in ihrem segensreichen Wirken. Das gewährte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_456.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)