Seite:Die Gartenlaube (1876) 444.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


das Eigenthum meines Sohnes – es wird wohl für seine Mutter Platz darauf sein.“

Leo trat mit ungestümer Bewegung einen Schritt zurück. „Was heißt das?“ rief er heftig. „Willst Du Dich vor diesem Waldemar zu einer Bitte erniedrigen? Ich weiß, daß wir arm sind, aber eher will ich alles ertragen, alles entbehren, ehe ich zugebe, daß Du um meinetwillen –“

Die Fürstin erhob sich plötzlich. Ihr Blick und ihre Haltung waren so gebietend, daß der Sohn mitten in seinem leidenschaftlichen Proteste verstummte.

„Hältst Du Deine Mutter für fähig, sich zu erniedrigen?“ fragte sie. „Kennst Du sie so wenig? Ueberlaß’ es mir, mein Sohn, meine und Deine Stellung zu wahren! Du brauchst mir wahrlich nicht die Grenze zu ziehen, bis zu der ich gehen darf. Ich kenne sie allein.“

Leo schwieg und sah zu Boden. Die Mutter trat ihm näher und nahm seine Hand.

„Wird dieser Feuerkopf denn nie ruhig denken lernen?“ sagte sie milder. „Es wird ihm doch noch so nothwendig sein im Leben. Meinen Plan mit Waldemar werde ich allein ausführen. Du, mein Leo, sollst nichts von dem empfinden, was ihm vielleicht Bitteres für mich anhaftet. Du sollst den Blick frei behalten und den Muth ungebeugt für die Zukunft, die Deiner wartet. Das ist Deine Aufgabe; die meine ist es, Dir diese Zukunft zu sichern um jeden Preis. Vertraue Deiner Mutter!“

Sie zog den Sohn an sich, der wie in stummer Abbitte ihre Hand an seine Lippen drückte, und als sie sich jetzt niederbeugte, das schöne lebensvolle Antlitz zu küssen, da sah man, daß die kalte strenge Frau es doch wenigstens verstand, Mutter zu sein, und daß Leo, trotz der Strenge, mit der sie ihn behandelte, doch der Abgott dieser Mutter war.


„Thun Sie mir den Gefallen, Doctor, und hören Sie endlich einmal auf mit diesen ewigen Lamentationen! Ich sage Ihnen, der Junge ist nicht zu ändern. Ich habe es oft genug versucht; sechs Hofmeister haben mir nacheinander dabei geholfen. Wir konnte Alle nichts mit ihm ausrichten, und Sie können es erst recht nicht – also lassen Sie ihm seinen Willen!“

Es war der Gutsbesitzer Herr Witold auf Altenhof, der dem Erzieher seines Mündels im kräftigsten Tone diese Rede hielt. Die beiden Herren befanden sich in der großen Eckstube des Wohnhauses, deren Fenster der Hitze wegen weit geöffnet waren und deren ganzes Aussehen zeigte, daß ihr Bewohner Dinge wie Eleganz und Comfort für sehr überflüssig, wenn nicht gar für schädlich hielt. Die einfachen, zum Theil sehr alterthümlichen Möbel waren ohne die mindeste Rücksicht auf geschmackvolle oder auch nur passende Anordnung hier und dorthin geschoben, wie es gerade die augenblickliche Bequemlichkeit erforderte. An den Wänden hingen Flinten, Jagdgeräthschaften und Hirschgeweihe, gleichfalls ohne jede Wahl geordnet. Wo gerade Platz war, hatte man einen Nagel eingeschlagen und den betreffenden Gegenstand daran befestigt, unbekümmert darum, wie er sich ausnahm. Auf dem Schreibpult lagen Wirthschaftsrechnungen, Tabakspfeifen, Sporen und ein halbes Dutzend neuer Reitpeitschen bunt durcheinander. Die Zeitung befand sich auf dem Teppiche, der allerdings vorhanden war, wenigstens dem Namen nach, dessen Abwesenheit dem Zimmer aber jedenfalls zu größerer Zierde gereicht hätte, denn er zeigte deutliche Spuren davon, daß die großen Jagdhunde ihn als täglichen Ruheplatz erwählt hatten. Ueberhaupt stand und lag kein Ding an dem Platze, wohin es eigentlich gehörte, vielmehr jedes da, wo es gerade zuletzt gebraucht worden war und wo es nun für spätere Fälle liegen blieb. Von dem Kunstsinne des Bewohners gab nur ein einziger Gegenstand in dem Gemache ein freilich haarsträubendes Zeugniß, ein in den grellsten Farben colorirtes Jagdstück, das über dem Sopha hing und dort an der Hauptwand den Ehrenplatz behauptete.

Der Gutsherr saß in seinem Lehnstuhl am Fenster, ganz umlagert von mächtigen Tabakswolken, die er aus seiner Meerschaumpfeife blies. Er war ein angehender Sechsziger, sah aber trotz seiner weißen Haare noch verhältnißmäßig jugendlich aus und stand jedenfalls noch in der Fülle der Kraft und Gesundheit. Die Gestalt von bedeutender Größe zeigte einen ebenso bedeutenden Körperumfang; das etwas geröthete Gesicht verrieth nicht allzu viel Intelligenz, dagegen trug es einen unverkennbaren Ausdruck von Gutmüthigkeit. Der Anzug, ein Gemisch von Haus- und Jagdcostüm, war ziemlich nachlässig, und die urkräftige Gestalt mit ihrer urkräftigen Stimme bildete denn schärfsten Gegensatz zu der vor ihr stehenden schmächtigen Figur des Erziehers.

Der Doctor mochte im Anfange der dreißiger Jahre sein; er war von mittlerer Größe, aber seine gebückte Haltung ließ ihn klein erscheinen. Das Gesicht war nicht gerade unschön, aber es trug zu deutlich den Ausdruck der Kränklichkeit und einer gedrückten Lebensstellung, um anziehend zu erscheinen. Seine Farbe war bleich und ungesund, die Stirn gefaltet, und die Augen hatten jenen zerstreuten unsichern Blick, der Leuten eigen ist, die selten oder nie mit ihren Gedanken ganz bei der Wirklichkeit sind. Der schwarze Anzug zeigte die peinlichste Sorgfalt, und das ganze Wesen des Mannes hatte etwas Schüchternes, Aengstliches, das sich auch in seiner Stimme verrieth, als er leise antwortete:

„Sie wissen, Herr Witold, daß ich mich nur im äußersten Nothfalle an Sie wende. Diesmal aber muß ich Ihre Autorität in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.“

„Was hat denn Waldemar schon wieder angestiftet?“ fragte der Gutsherr ärgerlich. „Daß er unbändig ist, weiß ich so gut wie Sie, da kann ich Ihnen aber nicht helfen. Mir ist der Junge längst über den Kopf gewachsen; er parirt keinem Menschen mehr, auch mir nicht. – Daß er vor Ihren Büchern davonläuft und sich lieber auf der Jagd herumtreibt – pah, ich habe es in meiner Jugend auch nicht besser gemacht. Mir wollte der Gelehrtenkram auch nicht recht in den Kopf. Daß er keine Manieren hat – ist auch gar nicht nothwendig. Wir leben hier ganz unter uns, und wenn wir einmal mit den Nachbarn zusammenkommen, geht es auch ungenirt genug zu. Das wissen Sie doch am besten, Doctor. Sie nehmen ja immer Reißaus vor unseren Jagd- und Trinkgesellschaften.“

„Aber bedenken Sie doch,“ wendete der Erzieher ein, „wenn Waldemar mit seinem unbändigen Wesen später in andere Lebenskreise tritt, wenn er sich dereinst verheirathet –“

„Verheirathet?“ rief Witold förmlich beleidigt von dieser Voraussetzung. „Er wird doch nicht! Wozu braucht er zu heirathen? Ich bin Junggeselle geblieben und befinde mich wohl dabei, und der selige Nordeck hätte auch besser daran gethan, wenn er ledig geblieben wäre. Nun, mit unserm Waldemar hat es Gott sei Dank keine Noth – der läuft vor Allem, was Frauenzimmer heißt, und daran thut er recht.“

Er lehnte sich mit sehr zufriedener Miene in seinem Stuhl zurück. Der Doctor trat einen Schritt näher.

(Fortsetzung folgt.)




Zur Säcularfeier einer Republik.
Von Friedrich Kapp.


Der Tag, dessen hundertjährige Wiederkehr heute die ganze gebildete Welt feiert, ist das letzte Glied in jener Kette von gewaltigen Ereignissen, welche in der Geschichte als das Reformationszeitalter bezeichnet zu werden pflegen. Eröffnet am 31. October 1517, durch die fünfundneunzig an die Wittenberger Schloßkirche genagelten Streitfälle Luther’s, schließt diese Aera am 4. Juli 1776 durch die vom Philadelphia Staatenhause aus der Welt verkündete Unabhängigkeit der amerikanischen Colonien. War die deutsche Reformation bei der Freiheit der Gewissen, der freien Kirche stehen geblieben, so erweiterte der amerikanische Abfall vom Mutterlande ihren geistigen Gehalt zur Selbstbestimmung des Bürgers nicht bloß auf kirchlichem, sondern auch auf politischen Gebiete, so schuf er den freien Staat, die aus und durch sich selbst gegliederte und geleitete Gesellschaft.

Derselbe die Menschheit in ihrem tiefsten Innern bewegende Gedanke, welcher in der Heimath nur halb geglückt oder

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_444.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)