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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, als sähe sie ein Gespenst mitten in dem Jubelrausch emportauchen – Gott im Himmel, wenn sie falsch gelesen hätte! Es war doch so? Flora, dieses unberechenbare Wesen, hatte sich verlobt? Sie wollte sich nun doch, nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen, berühmt zu werden, in der zwölften Stunde in die Ehe retten? Käthe griff noch einmal nach dem dicken, duftenden Briefblatt – ja, ja, da stand es wirklich und wahrhaftig in den „großen Krakelfüßen“. Und dann folgte eine genaue Instruction, in welcher Weise die Verlobungsanzeige für die Residenzbewohner zu bewerkstelligen sei; es war die Rede von der Hochzeit, die man, just um der Vergangenheit willen, auf den zweiten Pfingstfeiertag festgesetzt habe – und dann kam die vorläufige Einladung zu der Vermählungsfeierlichkeit für die Großmama selbst. Das war Alles sonnenklar und unumstößlich, aber nun flog eine tiefe Blässe über das Gesicht der Lesenden, und sie meinte, an der Lähmung, die über sie komme, müsse sie sterben. Flora schrieb weiter:

„Auf meiner Durchreise nach Berlin habe ich mich auch einige Tage in L…g aufgehalten. Es wird Dir interessant sein, zu hören, daß einem gewissen Hofrath und Professor Bruck bei seinem fabelhaften Glück nicht nur die Berühmtheit in den Schooß, sondern auch eine schöne Gräfin zu Füßen gefallen ist. Man versicherte mir allgemein, er sei im Stillen verlobt mit der reizenden Patientin, die er, nachdem alle anderen Aerzte sie aufgegeben, durch eine kühne Operation, dem Tode entrissen habe. Das gräfliche Elternpaar soll mit der Verbindung durchaus einverstanden sein, und die liebe, gottselige Tante Diakonus scheint ihren Segen auch nicht zu verweigern. Ich sah sie neben dem Brautpaar in der Theaterloge sitzen, fried- und tugendsam wie immer, und, wenn ich nicht irre, Zwirnhandschuhe an den Händen. Das Mädchen ist sehr hübsch, wenn auch ein Puppengesicht ohne Geist – und Er? Nun, Dir kann ich’s ja sagen, Großmama: ich habe mir die Lippen blutig gebissen vor Grimm und Groll, weil das dumme Glück diesen Menschen zu einem Gegenstand der allgemeinen Vergötterung macht, weil er hinter dem Stuhl seiner Braut stand, so sicher, zuversichtlich und ruhig, als gebühre ihm alle Auszeichnung von Rechtswegen, und als wisse er nichts von Charakterschwäche – der Ehrlose! … Gieb Käthe den inliegenden Zettel –“

Ach ja, da lag er wohlversiegelt auf dem Schreibtisch und trug die Adresse: „An Käthe Mangold.“ … und die Welt kreiste vor ihren Augen, und der schmale Papierstreifen flog in den wie von Fieberfrost geschüttelten Händen auf und nieder. Er enthielt nur die Worte: „Habe die Freundlichkeit, den Dir anvertrauten Ring nunmehr der Gräfin Witte zu übergeben – oder wirf ihn auch meinetwegen in den Fluß zu dem andern!

Flora.“

Käthe war plötzlich sehr ruhig geworden; sie glättete mechanisch den Zettel und legte ihn zu dem Briefe. Sollte die schöne Gräfin Witte der Gast sein, für den man das Fremdenzimmer eingerichtet hatte? Sie schüttelte energisch den reizenden, flechtengeschmückten Kopf, und die braunen Augen begannen auszustrahlen, während sie die Hände fest gegen die tiefathmende Brust preßte. War sie es Werth, ihm je wieder in die Augen zu sehen, wenn sie auch nur secundenlang an ihm zweifelte? Er hatte gesagt: „Zu Ostern komme ich wieder.“ Und er kam, und wenn die glänzendste Menschenberedsamkeit ihr das Gegentheil versicherte, sie glaubte Nichts, als daß er sie liebe, und daß er kommen werde. Nein, nein, solch ein hochmuthberauschter Schloßherr konnte es wohl über’s Herz bringen, der einst Geliebten, der unglücklichen, blonden Edelfrau, die neue stolze Schloßherrin in der Hochzeitsschleppe zuzuführen – aber nicht er, nicht er in seiner Gemüthsinnigkeit. Er brach der Müllers-Enkelin nicht sein Wort, um einer Anderen willen, und wenn selbst diese Andere eine Gräfin sein sollte.

Ein unbeschreiblicher Glückseligkeitssturm wogte in ihr auf und riß alle Gedanken in seinen Wirbel. Sie flog nach dem südlichen Eckfensters, um nur einen Blick nach dem lieben, alten Hause zu werfen – Himmel, dort von der Fahnenstange flatterte eine farbenglänzende Flagge über die Baumwipfel hin. Waren die Gäste schon da? Sollte sie hinübereilen, um die Tante Diakonus in ihre Arme zu schließen? Nein, in dieser stürmischen Aufregung ganz gewiß nicht. Da mußte erst die verrätherische Gluth von den Wangen gewichen und der Herzschlag ruhiger geworden sein, wenn sie sich nicht vor den seelenvollen, klaren Augen der sanften Frau scheuen sollte. … Ruhe, Ruhe! – Sie trat an den Schreibtisch.

Da lag aufgeschlagen das große, dicke Hauptbuch; das Fach hier barg sechs Geschäftsbriefe, die heute noch beantwortet werden mußten, und drunten rasselte schwerfällig einer der Mühlenwagen mit Getreidesäcken in den Hof. Die Hunde bellten einen Bettler, dem Suse ein Stück Brod vom Vorsaalfenster zuwarf, wie toll an; da waren Prosa und rauhe Wirklichkeit übergenug. Und die Neuruppiner Bilderbogen, die, als großväterlicher Nachlaß streng respectirt, immer noch die Wände zierten, sie hatten ganz gewiß nichts Aufregendes, so wenig, wie die dickbäuchigen Federkissen des Kanapee’s d’runter und die Schwarzwälder Standuhr daneben, die so entsetzlich steif und geradlinig die Wand hinaufstieg und den lebensmüden Pendel langathmig hinter dem blinden Glase schwang.

Der Blick des jungen Mädchens streifte langsam alle diese Herrlichkeiten, dann nahm sie einen Briefbogen und tauchte die Feder ein. „Herrn Schilling und Compagnie in Hamburg“ – ach, das konnte ja Niemand lesen! Verzweiflungsvoll fuhr sie mit der Hand über die glühende Stirn, so daß die braunen Locken wegflogen und eine schmale, rothe Narbe hervortreten ließen. Und so verharrte sie einen Augenblick unbeweglich, die Linke über die Augen gelegt und in der Rechten die ungeschickte Feder auf dem Papiere festhaltend; da streifte ein kühles Wehen ihre Wange. Die Zugluft kam durch eine offene Thür, oder vom Fenster her; sie sah auf und da stand er, dort auf der obersten Stufe der in das Zimmer hinabführenden Holztreppe, lächelnd, strahlend in Wiedersehensfreude.

„Bruck! – Ich wußte es,“ jubelte sie auf, und die Feder fortwerfend, breitete sie die Arme aus und lag im nächsten Augenblick an seiner Brust.

Draußen kam Suse über den Vorsaal; was sollte denn das heißen? Die Thür stand angelweit offen, im April, wo man noch täglich das „sündentheure“ Holz in den Ösen stecken mußte, und den Aufschrei hatte sie auch gehört. Sie fuhr mit dem blauen Schürzenzipfel, den sie gerade in der Hand hielt, um sich den Schweiß von der Stirn abzutrocknen, vor Schrecken in den Mund, denn da unten, auf den weißgescheuerten Dielen ihrer heiligen Schloßmühlenstube, stand der Herr Doctor Bruck und hielt ihr Fräulein in den Armen, so fest, als wolle er sie in seinem ganzen Leben nicht wieder loslassen – Herr Gott – und sie waren ja doch kein Brautpaar vor den Leuten.

Behutsam schlich sie näher, um die Thür sacht zu schließen, aber Käthe sah sie und bemühte sich, unter heißem Erröthen, der Umarmung zu entfliehen.

Der Doctor lachte lachte wieder so frisch und melodisch, wie früher – und hielt sie nur um so fester. „Nein, Käthe, Du kamst zwar freiwillig, aber ich traue Dir doch nicht,“ sagte er. „Ich wäre ein Thor, wenn ich Dir Zeit ließe, Dich möglicher Weise in die Schwester zurückzuverwandeln. Kommen Sie nur herein, Jungfer Suse!“ rief er über die Schulter – er hatte die alte Haushälterin sehr wohl bemerkt – „Erst müssen Sie bestätigen, daß Sie eine Braut gesehen, dann soll sie ihre Freiheit haben.“

Suse wischte sich die Augen und gratulirte sehr wortreich, dann aber beeilte sie sich, die Thür zuzudrücken, um zu „der Müllerfranzen über den Hof ’nüber, zu laufen,“ und ihr halb glücklich, halb klagend zu sagen, daß es mit der Herrlichkeit in der Mühle wieder aus sei, weil das Fräulein nun doch heirathen wolle. …

Der Doctor trat an den Schreibtisch und schlug feierlich das Hauptbuch zu. „Die Carriere der schönen Müllerin ist geschlossen, denn – Ostern ist da,“ sagte er. „Wie habe ich die Tage gezählt bis zu dem Ziele, das ich mir damals selbst stecken mußte, wenn ich Dich nicht ganz verlieren wollte! Du weißt nicht, wie es thut, ohne Gewißheit gehen zu müssen, wenn man für sein ganzes Lebensglück zittert. Mein einziger Trost waren Deine Briefe an die Tante, diese klaren Briefe voll Willenskraft und strenger Weltanschauung, aus denen ich trotz alledem die heimliche Liebe las – aber wie spärlich kamen sie!“ Er ergriff ihre Hand und zog sie wieder an sich. „Ich habe wohl begriffen, daß ein Zeitraum der Entsagung zwischen der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 433. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_433.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)