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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


erscheinen bemühte, waren doch alle Züge seines schönen Gesichts wie von verzweifeltem Schmerze durchwühlt. Nach meiner Schätzung mochte er ein beginnender Dreißiger sein. Alles, was er sprach und that, hatte vornehme Art. Er fragte mich, ob sich die Bestattung seiner Schwester wohl in der ersten Frühe des folgenden Tages ermöglichen lasse, da er in Familienangelegenheiten zu bestimmt und nahe bevorstehendem Termine erwartet würde. Seine mir vorgelegten Papiere sowohl wie der Todtenschein waren in bester Ordnung, ich erklärte mich also bereit, diesem Wunsche zu willfahren. Als ich die Todte einsegnete, begriff ich ganz die namenlose Verstörung, welche sich in Blick und Miene des Bruders äußerte, dem sie so plötzlich entrissen war. Das schöne junge Kind lag da wie ein Schneeglöckchen, welches der Sturm vom Stengel gerissen; obgleich der Todesengel sie umfing, sah sie doch auch jetzt noch blumenhaft licht und frisch aus. Freilich mochte sie überzart gewesen sein; nie wieder sah ich so feine Händchen.

So wurde sie denn am folgenden Morgen bestattet. Es war mir nicht unlieb, dieser Amtspflicht bald genügen zu können, denn Nachmittags mußte ich in das Schloß, wo sich Keiner recht zu helfen wußte, da von der Verwandtschaft noch Niemand eingetroffen war, und am folgenden Tage sollte die Todesfeier unseres Herrn celebrirt werden, an welcher die ganze Gegend Antheil nahm.

Herr Walton fuhr unmittelbar nach dem Begräbnisse seiner Schwester von dannen. Er hatte eine namhafte Summe für die Ortsarmen zurückgelassen und meine Zusage bekommen, daß Fräulein Emmy’s Grab in gutem Stande erhalten werden sollte.“

Der alte Herr brach ab und putzte nachdenklich seine Brillengläser.

„Hierbei blieb es aber nicht?“ fragte ich nach einer Weile.

„Bewahre, bewahre!“ sagte er kopfschüttelnd. „Es ist erstaunlich, wie Einem nach langen Jahren solche Gesichter wieder vor Augen stehen, die doch längst begraben und vergangen sind. Eben war mir’s, als müßt’ ich mit den Beiden Zwiesprach halten, denn damals, als ich sie vor mir sah, hab’ ich ja nichts von ihnen gewußt und gekannt, und wie merkwürdig sind sie mir später geworden! – Was ich Ihnen bisher berichtet, liebe Dame, war nur der Anfang. Zunächst kam ein großer Schrecken.

Nicht lange nach dem Todesfalle – es mochten ungefähr vierzehn Tage vergangen sein – erschien der Wirth im Pfarrhofe. Sein verstörtes Gesicht und die Heimlichkeit, womit er mich allein zu sprechen begehrte, fielen mir gleich auf, doch war ich wenig auf das gefaßt, was er mir zu sagen kam. Desselbigen Tages wurde in seinem Hofe der Kehrichthaufen fortgeschafft. Seine kleine Dirne spielte dort herum und las sich allerlei glitzernde Porcellan- und Glasscherben zusammen, die bei Aufladen des Gerölls zur Seite fielen. Auf einmal kam es wehklagend zum Vater, sein Kätzchen sei todt, es hätte am Glase geleckt und jetzt wär’ es hin. Das kam dem Wirthe auffällig vor, und als er mit dem Kinde nach der Stelle ging, zeigte es ihm den unteren Theil eines zerbrochenen Glases, auf dessen Grunde noch ein Bodensatz von Zucker klebte. Dem Wirthe schoß es siedend heiß durch den Kopf. In diesem Glase, einem Krystallpokale, der nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt wurde, hatte der fremde Bediente in seiner Gegenwart eine Limonade zurecht gemacht, welche von den Gästen begehrt worden war, und sie selbst hinaufgetragen. Kaum eine halbe Stunde nachher war das Fräulein erkrankt. Die Aufregung, mit welcher der Wirth mir diesen Umstand mittheilte, ergriff auch mich. Er hatte den Scherben mitgebracht, welcher in der That noch einen hinreichend starken Bodensatz zeigte, um eine Untersuchung desselben möglich zu machen. Die Plötzlichkeit, mit welcher der Tod des Thierchens stattgefunden, welches davon genossen, rechtfertigte einen schauerlichen Verdacht, und ich saß im ersten Momente sprachlos vor Schrecken. Der Wirth drang in mich, ihm zu rathen, was er thun oder lassen sollte. Er hätte gern von der Sache still geschwiegen, denn er scheute das große Aufsehen, doch hatte er Gewissensscrupel, ob er nicht verpflichtet sei, Anzeige zu machen.

Ich dachte lange nach. Während ich die Wahrnehmungen jener Nacht an meinem Geiste vorüberziehen ließ, kam mir plötzlich jenes kaum beachtete Wort des Dieners wieder in den Sinn: ‚Da zanken sie sich schon wieder.‘ Die tiefe Niedergeschlagenheit des jungen Mädchens, die mir bei ihrem ersten Anblick aufgefallen war, der Streit zwischen Bruder und Schwester, von welchem mein Ohr zwar nur wenige, aber unverkennbare Klänge aufgefangen hatte, die Verstörung Walton’s nach Emmy’s jähem Ende – Alles das, was mir bei völliger Ahnungslosigkeit damals keine Spur von Verdacht eingeflößt hatte, verknüpfte sich jetzt mit einander, und plötzlich stand die Ueberzeugung in mir felsenfest, daß hier ein Verbrechen begangen worden. Nachdem ich mit mir in’s Reine gekommen, und der Wirth seine Frage wiederholt hatte, ob er von dem Vorkommniß gerichtliche Anzeige machen müßte, rieth ich ihm hiervon ab.“

„Sie riethen ab?“ fragte ich befremdet.

Der Pfarrer richtete seine milden Augen voll auf mich und legte seine welke Hand wie beschwichtigend auf die meinige. „Wir Beichtväter wissen Eines,“ sagte er mit tiefem Ernst. „Damit schwere Verschuldung auch schwere Sühne erfährt, bedarf es keiner weltlichen Strafen. Durch dasselbe Thor, wo die Sünde hinausgegangen ist, kömmt die Vergeltung herein, wenn auch keines Menschen Auge das sieht, keines Menschen Ohr davon hört. Gott läßt sich nicht spotten. Wer sich dunkler Thaten bewußt ist, geht durch Nacht, wo er auch gehen und welche Sonne ihm auch scheinen mag. – Vom weltlichen Standpunkt betrachtet, erschien es äußerst fraglich, ob eine gerichtliche Untersuchung dieses Vorfalls zu irgend einem Resultat führen würde. Wenn ein Verbrechen nachzuweisen war, so sprach jede Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Thäter nicht seinen wirklichen Namen angegeben hatte. Ob diese Beiden überhaupt in geschwisterlichem Verhältnisse gestanden, ob der vielleicht am ehesten zu ermittelnde Diener sich als Zeuge gegen den Verbrecher, oder als dessen Mitschuldiger erweisen würde – wer vermochte das zu beurtheilen? Wir lebten in unruhigen Zeiten; die Reisenden waren Ausländer, und es gab damals keine Telegraphen, die, wie heute, das Verborgene von Land zu Lande tragen. Jedenfalls hätte die Ruhe der Todten gestört, ihr Grab geöffnet werden müssen. Alles das hatte ich bedacht und rieth zum Schweigen.

Der Wirth war dieses Rathes froh, und ich glaube, daß er in der That geschwiegen hat. Dennoch gingen nach kurzer Zeit Gerüchte um, die Fremde sei keines natürlichen Todes gestorben. Sie können dies, gleichsam als Sage, noch heute aus dem Munde jedes Bauernweibes vernehmen. Doch verlor sich das Gerede wieder, gleich allem, das keine Nahrung findet, bis die Errichtung des Marmorkreuzes den Leuten das vergessene Ereigniß neu in den Sinn brachte.“

Ehe ich die Frage aussprechen konnte, welche mir diese letzte Bemerkung auf die Lippen drängte, kam die alte Köchin in den Garten und meldete, der Wagen sei da.

„Kommen Sie noch einen Augenblick in das Haus!“ sagte der Pfarrer, indem wir uns erhoben; „ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Nachdem wir in sein Studirzimmer getreten, schloß er eine Lade seines Schreibpultes auf und enthüllte eine sorgfältig in Seidenpapier verwahrte Photographie, die er mir reichte. Das Bild fesselte mich ganz eigenthümlich; es war das einer Nonne im Habit. Aus dem nicht mehr ganz jugendlichen Gesicht, dessen weiche Linien für Liebe und Freude geschaffen schienen, blickten tief schwermüthige Augen. Trotz der im Grunde dieses Blickes ruhenden Trauer blieb der herrschende Ausdruck der sprechenden Züge ein Abglanz unsagbaren Friedens.

Als ich das Bild dem Pfarrer zurückgab, nachdem Auge und Gedanke lange darauf verweilt hatten, sagte er nachdrücklich: „Von Dieser erzähle ich Ihnen unterwegs. Es ist das Ende.“

Wir fuhren schweigsam durch die belebte Dorfstraße, wo sonntäglich geputzte Mädchen und Kinder vor allen Thüren saßen und sich mit raschem Knix vor uns erhoben. Das Wetter war herrlich, die Wärme durch einen frischen Luftzug gemildert. Eilige Vögel segelten durch die klar blaue Luft. Als wir durch die einsamen Felder und Wiesen fuhren, auf welchen das frischgemähte Grummet in lockeren Haufen stand und jenen mit nichts Anderem vergleichbare würzigen Heuduft ausströmte, nahm der geistliche Herr seine Erzählung wieder auf.

„Seit den damaligen Vorgängen mochten fünfzehn Jahre verstrichen sein,“ sagte er mit etwas gedämpfter Stimme, „da hielt eines Morgens im Spätherbst, als es eben zu dämmern begann, eine verschlossene Reisekutsche vor dem Wirthshause. Keine Bedienung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_427.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)