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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


mehrte; sie hügelaufwärts und über die breiten Stufen näher kommen zu sehen, bot ein lebendiges Bild.

Meine Gedanken aber weilten nicht bei den Lebendigen, sondern bei den Todten; lebhaft gewecktes Interesse zerstreute mich während des Gottesdienstes und ließ mich ungeduldig dem Moment entgegensehen, wo ich mir vom Pfarrer Aufklärung über das Geschaute erbitten konnte. Sobald mich der würdige Herr in seinem schlichten Studirzimmer begrüßt hatte, wo wir auf das Eintreffen des Wagens zur gemeinschaftlichen Rückfahrt harren sollten, war mein erstes Wort die Frage, durch welchen Zusammenhang das Grab einer Ausländerin sich an so entlegene Stätte verirrt habe und weshalb es in so ungewöhnlicher Weise bezeichnet sei.

„Darüber wüßte ich Ihnen wohl Aufschluß zu geben,“ sagte der Pfarrer, „aber wahrhaftig, ich meine, wir sollten das lieber lassen. Sie schauen so frohherzig drein – da ist es beinahe schade, den gesegneten Sonntagsmorgen mit traurigen alten Geschichten zu verderben. So lange es auch schon her ist mit alledem, wird mir doch jedesmal kalt in meinen paar Haaren, so oft ich daran zurückdenke.“

„Sie haben diese traurigen Dinge also miterlebt, Hochwürden? Ist kein Geheimniß dabei, dann bitte ich dringend, erzählen Sie mir davon!“

Er wiegte nachdenklich den Kopf. „Wissen Sie was? Wir setzen uns in die Bohnenlaube; dort ist’s hübsch kühl, und wenn Sie es denn so wollen, berichte ich Ihnen die Begebenheit. Ich weiß ja, wie es mit den lieben Frauchen steht; erfahren wollen sie Alles; erzählte ich Ihnen die Geschichte nicht jetzt gleich, dann würden Sie im Schlosse danach fragen. Unsere Herrschaften haben es aber nicht gern, wenn die alten Historien aufgerührt werden; geht es sie auch weiter nichts an, so ist es ihnen doch ein unlieber Gedanke, daß so etwas gleichsam auf ihrem Grund und Boden passirt ist.“

Wir saßen in der dichtumrankten Bohnenlaube, welche über den kleinen Nutzgarten des Pfarrhofes hinweg den Ausblick nach dem etwas tiefer gelegenen Brunnenplatze des Dorfes freiließ. Hart an der Fahrstraße, welche sich um die Anhöhe nach dem Saume des Waldes zog, lag die Schenkwirthschaft, das stattlichste Haus des kleinen Ortes.

„Sehen Sie, dort unten in der Schenke hat sich der Anfang der Geschichte zugetragen,“ sagte der Pfarrer und deutete hinab; „das ist nun über fünfundzwanzig Jahre her. Dazumal hat das Haus nur ein Stockwerk gehabt, ist überhaupt viel geringer gewesen, denn Einheimische haben selten über Nacht dort geherbergt, und Fremde sind gar nicht des Weges gekommen. Wer an den See gewollt hat oder in’s Tirol, für den hat’s nähere Straßen gegeben. Ich war damals noch nicht lange hier, und es kam mir gewaltig einsam vor. Man redet so viel vom Wohlleben der katholischen Geistlichkeit. Du meine Güte! Die so sprechen und schreiben, sollten einmal ein paar Jahre auf solch einem ärmlichen Pfarrdorfe sitzen. Jetzt ist das Haus in gutem Stand, damals blies es aber beinahe der Wind um; die Zehrung war kümmerlich und mit Umgang für unser Einen sah es noch übler aus. Am Ort sind Bader, Wirth und Schulze Nummer eins, und bei den Herrschaften konnte ich zuerst die Blödigkeit nicht überwinden. Alles muß gelernt sein. Zur Zeit, als die Geschichte passirte, hat nur der alte Gutsherr im Schlosse gewohnt; die gegenwärtige Herrschaft war für den Winter nach Italien gereist und vom Heimkommen keine Rede, obgleich schon der grüne Frühling in’s Land schaute.

So war es an einem Samstagabend im Mai, als ich hier in der Bohnenlaube saß und meine Predigt für den nächsten Tag memorirte. Da hörte ich Pferdegetrappel und Rädergerolle, wie von herrschaftlichen Wagen. Ich schaute auf und sah zu meiner Verwunderung eine fremde, vornehme Reisekutsche, wie wir sonst nie dergleichen hier zu sehen bekamen. Obgleich tüchtige Rosse vorgespannt waren, bewegte sich das Gefährt ganz langsam, und ich hatte Zeit, mir die Insassen zu betrachten. Das Verdeck war zurückgeschlagen, und auf dem Rücksitze schaute ich ein feines Pärchen. Der Herr hatte seinen Kopf nach der anderen Seite gewendet; ich gewahrte nur, daß er hochgewachsen war und von adliger Gestalt. Um so deutlicher sah ich seine Nachbarin – lieber Gott, das Gesicht ist mir ja nachher wieder vor die Augen gekommen! Es gemahnte mich an die heilige Cäcilia in unserem Musiksaale im Seminar; langes blondes Gelock floß ihr um das helle Gesicht, und blutjung sah sie aus, schaute aber traurig vor sich hin, als ginge sie die ganze Welt nichts an.

Der Wagen hielt vor dem Wirthshause, und während die Beiden noch drinnen sitzen blieben, merkte ich, daß eines der Räder zu Schaden gekommen sein mußte, denn Wirth und Kutscher machten sich daran zu schaffen, worauf die Reisenden ausstiegen und in’s Haus gingen. Ein feiner Bedienter, der auf dem hinteren Bocke gesessen hatte, ließ die Koffer abschnallen, dann wurde der Wagen zum Radmacher gebracht. ‚Nun,‘ dacht’ ich, ‚die sind auch anders zu übernachten gewöhnt, als sie’s beim Hirschwirth finden,‘ und machte mich wieder an meine Predigt.

Ein paar Stunden nachher – ich hatte längst zu Nacht gespeist und wollte mich eben schlafen legen – schellt’ es an der Pfarre, und gleich darauf kommt die Liese mit großem Lamento herein, zu melden, ein Bote vom Schloß sei da, der alte Herr hätte einen Schlaganfall, und das Jagdwägelchen wäre gesandt, mich hinzuholen. Ich frug nach dem Boten, und wie ich hörte, daß der hinab ins Wirthshaus ist, um dort den Bader abzurufen, der vielleicht eine Ader schlagen müßte, lief ich im ersten Schreck barhäuptig hinunter, um nähere Auskunft zu erhalten. Es gab einen kleinen Verzug, weil der Bader nicht gleich zur Stelle war; während ich nun mit dem Wirthe und dem Boten sprach, hörte ich auf einmal durch das offene Fenster des Herrenstübles, wo wir standen, laute Stimmen, die sich von oben her gleichzeitig vernehmen ließen, die eine wie im Schluchzen, die andere wie im Zorn. Es dauerte nur einen Augenblick, dann wurde im oberen Stockwerk ein Fenster zugeschlagen, und dicht hinter mir hörte ich Einen, wie vor sich hin, sagen:

‚Da zanken sie sich schon wieder.‘

Ich schaute um und sah den fremden Kammerdiener, auf den ich zuvor nicht Acht gehabt, bei seinem Schoppen sitzen. Da mir der Sinn auf ganz Anderes stand, war all das nur wie beiläufig an meine Ohren gedrungen, und kam mir erst später wieder in’s Gedächtniß, dann freilich scharf genug. Inzwischen traf der Bader ein; ich begab mich eiligst nach dem Pfarrhofe zurück, wo der Sacristan schon das Nöthige bereit hielt, und wir fuhren ab. Leider trafen wir den alten Herrn in so üblem Zustande, daß auch der Physikus, welcher nach ein paar Stunden aus der Stadt eintraf, nichts mehr vermochte und deswegen gleich wieder umkehrte. Ehe noch der Tag graute, drückte ich dem braven Herrn die Augen zu, ohne daß er sich der heiligen Wegzehrung, die ich ihm gereicht, nur bewußt geworden wäre. Wir rathschlagten mit dem Verwalter, was jetzt zunächst zu thun sei, und waren eben im Begriff noch für ein Stündchen der Ruhe zu pflegen, als wir vor Thau und Tage wieder herausgeklopft wurden. Diesmal war es ein Bote vom Orte, den der Wirth hergeschickt hatte, um wo möglich den Physikus, jedenfalls den Bader so schnell wie möglich dorthin zu bescheiden, weil das fremde Fräulein plötzlich sterbenskrank geworden sei.

Da es im Trauerhause zunächst keine Amtspflicht für mich gab, fuhr ich gleich mit dem Bader zurück; der Physikus hatte sich, wie gesagt, gar nicht aufgehalten. Wir trafen im Wirthshause Alles auf den Beinen und in großer Verstörung; es hieß, das Fräulein sei soeben verschieden.

Ganz bestürzt durch die Plötzlichkeit dieses Falles und in der Meinung, vielleicht irgendwie nützen zu können, blieb ich anwesend, um den Ausspruch des Baders abzuwarten, welchen der Wirth sogleich in das Gastzimmer geführt hatte. Schon nach wenigen Minuten kam Jener wieder von dort herunter und sagte mir achselzuckend, da sei nichts mehr zu machen; ein Herzschlag habe augenblicklichen Tod herbeigeführt. Ich ließ bei dem fremden Herrn anfragen, ob mein Besuch ihm etwa genehm sei, erhielt aber den Bescheid, daß er mich im Laufe des Morgens in der Pfarre aufsuchen würde. Ganz erschöpft von all’ den Erlebnissen dieser Nacht, begab ich mich darauf nach Hause.

Gegen Mittag fand sich der Fremde bei mir ein, um Rücksprache zu nehmen. Er nannte sich Mr. Walton, war nicht, wie wir gemeint, ein Engländer, sondern aus Irland und gleich der Verstorbenen katholischen Glaubens. Sein unverhohlener Kummer flößte mir große Theilnahme ein; so gelassen er sich auch zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_426.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)