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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 26.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Grab.

Wir waren der Einladung einer befreundeten Familie gefolgt, den August auf ihrem in der Nähe eines schönen Bergsees gelegenen Gute zu verleben, dessen Weltabgeschiedenheit sich oft durch Gäste bevölkerte. Sonntags pflegten die Frauen des Hauses zum Gottesdienste nach dem nahe gelegenen Kirchdorfe zu fahren und nachher bei dem alten Pfarrer vorzusprechen, der zur Mittagstafel in das Schloß mit zurückfuhr. Seit langen Jahren war der Gutsherr an seine feiertägige Tarokpartie mit dem geistlichen Herrn gewöhnt.

Am zweiten Sonntage meines Dortseins wurde die Hausfrau durch das Eintreffen unverhoffter Gäste von der Kirchfahrt abgehalten. Der sonnige Morgen lockte zum Spaziergange; ich zog deshalb vor, den Weg zu Fuß zurückzulegen, und gelangte auf schattigem Waldpfade rascher an mein Ziel, als ich gedacht. Das Dorf lag auf einem durch schönen Laubwald begrenzten Hügel, von dessen Gipfel die Kirche niedergrüßte; der Friedhof, welcher sich in leichter Senkung um dieselbe herzog, gewährte eine herrliche Aussicht auf Thal, See und Gebirge und bot unter alten Linden einen schattigen Ruheplatz. Es war mir keineswegs unlieb, vor Beginn des Gottesdienstes etwas Zeit vor mir zu haben und nach genossener Ruhe zwischen den Gräbern umherstreifen zu können. Noch war es hier oben völlig einsam.

Kaum läßt sich Freundlicheres denken, als der Eindruck, welchen solch ein Dorfkirchhof im sonntäglichen, sommerlichen Schmucke bietet; in unseren Gebirgsthälern herrscht die liebliche Sitte, am letzten Abende der Woche alle Gräber mit frischen Kränzen zu bedecken – die ist Ehrensache und wird von Keinem versäumt. So grüßt am Sonntage die aufgehende Sonne schon all diese blühenden Zeichen der Liebe und des Gedenkens, und wer zwischen den geschmückten Gräbern wandelt, fühlt sich über den schmerzlichsten Eindruck eines Friedhofes fortgetäuscht: den des Vergessens. Wo nur die Natur ihre Gaben aus dem Staube Derer sprossen läßt, die gewesen, regt sich so leicht das Empfinden, wie bald Alles verschmerzt wird, selbst das tiefste Leid – Gras wächst darüber, sogar das Grab selbst wird heiter unter all dem Sprossen und Blühen. Dagegen weht aus solchem zu jedem neuen Feiertage neu gespendeten Blumengruße der Lebenden ein Hauch unvergänglicher Erinnerung, eine tröstende Poesie.

Nie habe ich einen Kirchhof gesehen, auf dem mehr Halme schwankten, mehr Rosen blühten, als jenen. Ueberall summten und schwirrten Käfer und beflügelte Insecten, überall wiegten sich bunte Schmetterlinge. Sonnenlicht auf allen Gräbern, nur zuweilen von leichten Schatten verdrängt, welche einige im Himmelsblau irrende Wolken niederfallen ließen. In feiernder Stimmung schlüpfte ich durch die schmalen, grasigen Pfade, las da und dort eine Inschrift oder betrachtete eines der naiv ersonnenen Denkzeichen; so gelangte ich auf den älteren, an die Rückseite der Kirche grenzenden Theil des Friedhofes, von wo man unmittelbar auf das Dorf niedersah, und sogleich fiel mir ein weißes Marmorkreuz in das Auge, welches sich blendend hervorhob. Ueberrascht trat ich näher.

Das Grab, an dessen Kopfende dieses durch tadellose Schönheit ausgezeichnete Kreuz emporragte, schien bereits Jahrzehnte zu zählen. Der eingesunkene Hügel war mit starkverzweigtem wucherndem Immergrün gleichsam überflochten. Eine große Trauerweide warf sanften Schatten darüber hin, zwischen dem die durchbrechende Sonne einzelne Lichtflocken wie Silber ausstreute. Ueber dem Schafte des Kreuzes, welches keine Inschrift trug, hing ein Epheukranz, dessen Blätter vom Nachtthau glänzten. Ein breites schwarzseidenes Band war fest um den Marmor geknüpft; ich hob eines der schlaff niederhängenden Enden und sah Worte in englischer Sprache darauf eingestickt; bereits waren die Goldfäden etwas verblaßt, doch ließ sich ohne Mühe die Bitte des Vaterunsers entziffern: Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!

Das Geheimniß, welches sich um diese Grabstätte zu weben schien, frappirte mich. Weshalb trug sie weder Namens- noch Jahreszahl dessen, der darunter schlief? Ich beugte mich, eine Ranke Immergrün zu pflücken, und gewahrte nun erst eine ganz einfache, oben abgerundete Tafel, welche zu Füßen des Hügels mit schiefer Senkung in der Erde halb verschwand und von dem grünen Geranke fast übersponnen war. Nachdem meine Hand sie davon frei gemacht, zeigte sich trotz unverkennbarer Spuren von Wind und Wetter eine ehemals vergoldete Inschrift:

Emmy Walton
geboren den 10. October 1832
gestorben den 20. Mai 1849.

Ein junges Mädchen also! In den schönsten Lebenstagen statt des Brautbettes ein verlassenes Grab, statt der Myrthe zu Häupten die Trauerweide! Während ich noch stand und sann, läutete es zum Gottesdienste; wie von Schwingen getragen, hallte der Glockenruf durch den sonnenhellen Morgen über Berg und Wald hin. Es war der Tag des Herrn. Als ich langsam die Kirche umschritten hatte, strömten die Landleute bereits durch das Portal hinein; der eben noch so einsame Friedhof füllte sich mit bunten Gestalten, deren Zahl sich mit jedem Augenblicke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_425.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)