Seite:Die Gartenlaube (1876) 423.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


auch nicht wenig nervöse Männer, für die das Meiste gleichfalls gilt, was hier von der Nervosität gesagt werden wird.

Die Erscheinungen, in welchen sich die krankhafte Nervosität ausspricht, sind so mannigfaltig, daß auch auf die allernervöseste Dame nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil derselben kommt, aber jede nervöse Patientin kann in der nachfolgenden Darstellung ihren Theil herausfinden.

Fast alle nervöse Kranken leiden an gesteigerter Empfindlichkeit und an Schmerzen der verschiedensten Art. Am häufigsten sind Kopf- und Rückenschmerzen. Auch kolikartige Leibschmerzen sowie Schmerzen in den Gelenken, besonders im Hüft- und Kniegelenk, sind nicht selten. Die Sinnesnerven, und zwar am häufigsten die des Gehörorgans, nehmen sehr oft Theil an der erhöhten Reizbarkeit der übrigen Nerven und entwickeln dann manchmal eine erstaunliche Schärfe der Wahrnehmung, die stets für die Kranke peinlich ist.

Sehr mannigfaltig sind auch die Krankheitserscheinungen im Bereiche der Bewegungsnerven, und zwar nach beiden Extremen hin. Einerseits findet man oft einen wahren Widerwillen gegen alle Bewegung, welcher schließlich so weit geht, daß die Kranken das Bett nicht verlassen, ja nicht einmal die Hand zum Munde führen mögen, so daß sie gefüttert werden müssen. Es ist dies die Folge der bei Nervösen so häufig vorkommenden Hemmung des Willenseinflusses auf die Bewegungsnerven. Wird durch einen starken psychischen Einfluß, wie Schreck oder Furcht, der Wille plötzlich gewaltsam angeregt, so können die scheinbar ganz gelähmten Kranken oft alle Bewegungen, zu denen sie vorher unfähig waren, ungehindert ausführen. Es fehlt nicht an Beispielen, daß solche Kranke, die monate- und jahrelang gelähmt im Bette lagen, durch eine plötzlich eintretende Gefahr, z. B. bei einer Feuersbrunst, für den Augenblick so schnell von ihrer Lähmung befreit wurden, daß sie behende aus dem Bette sprangen und auf und davon liefen. Man würde diesen Kranken sehr unrecht thun, wenn man ihre Lähmung für Verstellung hielte. – Andererseits kommen die verschiedenartigsten Krampfzufälle vor. Am häufigsten sind Convulsionen der Arme und Beine, Zittern der Glieder und des ganzen Körpers, Schluchzen, krampfhaftes, unzähliges Wiederholen einzelner Worte und dergleichen mehr. Diese Symptome tretet bald ohne bemerkbare Veranlassung, bald auf den unbedeutendsten Anlaß hin ein; oft genügt dazu schon die leichteste ärgerliche Erregung, das Hören eines unangehmen Geräusches.

In der Verdauungssphäre kommen gleichfalls mancherlei Störungen vor, die theils auf krampfhaften Zusammenziehungen der Muskelfasern in der Speiseröhre und im Darmcanal beruhen, theils auf fehlerhafter Function der Darm- und Magendrüsen. In ersterer Beziehung ist die Empfindung eines im Halse steckenden Pflockes (globus hystericus) zu erwähnen, in letzterer Appetitlosigkeit, unregelmäßige Ausleerung und namentlich Ansammlung von Gasen, die oft einen sehr hohen Grad erreicht.

Die Theilnahme der Athmungsorgane an dem allgemeinen Leiden zeigt sich durch beschleunigtes Athmen, Erstickungsgefühl, Lach- und Weinkrämpfe, peinlichen nervösen Husten und ähnliche Zufälle.

Wir schließen unsere des beschränkten Raumes wegen nicht bis in alle Einzelheiten ausgeführte Darstellung des Krankheitsbildes, indem wir die wichtigste Symptomengruppe der Nervosität, nämlich die Beeinträchtigung der psychischen Functionen, etwas näher besprechen. Fast ausnahmslos leidet das Willensvermögen. Mehr als andere Kranke sind die nervös Kranken geneigt, sich widerstandslos ihrem Kranksein hinzugeben. Die wenigen noch vorhandenen Willensäußerungen sind fast nur negativer Art. Selten heißt es: „ich will“, um so öfter: „ich will nicht“. „Raffe dich auf, nimm dich zusammen!“ mahnt die Umgebung, mahnt der Arzt. Doch. „Ich möchte ja so gern, aber ich kann nicht!“ ist die Antwort. Aber nicht nur der Wille in seiner allgemeinen psychischen (moralischen) Beziehung ist geschwächt, sondern auch sein Einfluß auf die der willkürlichen Bewegung dienenden Nerven. Daher jene Abneigung der Nervösen gegen alle körperliche Bewegung und gegen jede mit letzterer verbundene Beschäftigung.

Die Intelligenz wird durch das nervöse Kranksein selten direct gestört. Mittelbar aber leidet sie insofern sehr oft, als die Patientin aufhört, außer dem, was ihren Zustand betrifft, noch geistige Interessen zu hegen, um so unerschöpflicher sind die Kranken im Grübeln über ihre Leiden und in der Beschreibung derselben. Bewegen sich die Gedanken lange Zeit ausschließlich in einem so eng beschränkten Kreise, so ist eine gewisse geistige Verödung die natürliche Folge. Kommen dagegen wieder andere Interessen zum Vorschein, so ist dies eines der willkommensten Zeichen eintretender Genesung.

Ebenso regelmäßig wie das Willensvermögen der Nervösen leidet auch das Gemüth. Das ist in so hohem Grade der Fall, daß oft eine durch die Krankheit bedingte völlige Auswechselung der Persönlichkeit vorzuliegen scheint. Diese Auswechselung erfolgt, wie bekannt, nie nach der vortheilhaften Seite hin. Im Anfang der Krankheit zeigt sich Reizbarkeit, Neigung zu übler Laune, unmotivirter und rascher Wechsel zwischen trauriger und heiterer Stimmung, Abneigung gegen die gewohnten Beschäftigungen. Die Reizbarkeit nimmt mehr und mehr zu; die üble Laune wird vorherrschend und geht in tiefen Mißmuth über. Die Kranke beschäftigt sich fast ausschließlich mit ihrer Krankheit und giebt sich in Bezug auf dieselbe den trübsten hoffnungslosen Gedanken hin. Das Bedürfniß, der peinlichen, gedrückten Stimmung Luft zu machen durch Aussprechen gegen Andere und bei ihnen Theilnahme und Trost zu finden, ist fast allezeit vorhanden. Leider aber werden die Angehörigen der Kranken gegen die immer wiederkehrenden Klagen mit der Zeit gewöhnlich gleichgültig und selbst ungeduldig, und so tritt zu den wirklichen Leiden der Nervöskranken auch noch das bitter verletzende Gefühl, bei ihrer Umgebung keine Theilnahme zu finden, und regt die Kranke immer zu neuen Klagen an, womit sie das Interesse ihrer Umgebung zu gewinnen wünscht, und hier finden wir auch das leicht erklärliche und entschuldbare Motiv zu den Uebertreibungen, denen sich manche Kranke schuldig machen. Aus dem brennenden Wunsche, Mitleid und Interesse zu erwecken, gehen bisweilen die wunderlichsten Ausschreitungen hervor. Man hat hochnervöse Kranke beobachtet, welche sich insgeheim schmerzhafte Verwundungen beigebracht haben, lediglich aus dem genannten Motiv.

Zu jener tiefen, oft an wahre Melancholie grenzenden Verstimmung gesellen sich oft noch andere Symptome, aus denen auf Störung der Gehirnthätigkeit zu schließen ist. Dazu gehören Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Schlafsucht und Hallucinationen (Sinnestäuschungen). Der Kranke glaubt Dinge wahrzunehmen, welche nicht existiren; er empfindet Gerüche, sieht Gestalten, hört Geräusche, die für andere Menschen nicht wahrnehmbar sind. Auch dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß Nervöskranke bisweilen äußerst lebhaft und zusammenhängend träumen, im Schlaf aufstehen, gewohnte Verrichtungen ausführen und laut sprechen. Man nennt diesen Zustand bekanntlich Somnambulismus. Die Somnambulen kann man in ehrliche und unehrliche eintheilen. Die ersteren sagen und thun nichts weiter, als wozu sie im wachen Zustande auch befähigt sind. Die letzteren dagegen produciren sich als „hellsehende“, mit besonderen Fähigkeiten extra begabte Wesen, die im Schlaf Anschauung und Kenntniß von Dingen haben, welche im wachen Zustande ihrer Erkenntniß nicht zugängig sind. Diese Kategorie der Somnambulen, ohne alle Abnahme, geht auf bewußte Täuschung aus, und zwar in der Regel aus dem stillen, aber dringenden Wunsche, sich interessant zu machen. Bis jetzt ist es noch in jedem Falle solcher wunderbaren schlafkünstlerischen Productionen, wo eine sachverständige und scharfsinnige Kritik die Sache näher untersuchte, gelungen, die geplante Täuschung nachzuweisen.

Die mit der Nervosität verbundene Schädigung der psychischen Functionen bildet die wichtigste und bedenklichste Seite der Krankheit. Alle andern Symptome derselben, so peinlich sie sein mögen, bringen sehr selten eine unmittelbare Gefahr mit sich. Wohl aber liegt in weit entwickelten Krankheitsfällen die Möglichkeit vor, daß das psychische Leiden sich zu einem selbständigen, zu einer eigentlichen Gemüthskrankheit entwickeln werde.

So mannigfache Leiden, wie die der eben beschriebenen Krankheit zu schildern, erfordert etwas reichlichen Aufwand von dunkeln Farben. Dafür aber sollen diejenigen Leser, die im Vorstehenden das Spiegelbild ihrer Leiden erblickt haben, am Schluß dieser Mittheilungen das finden, wonach ihr Herz sich so sehr sehnt: Trost und Hoffnung, Hoffnung darauf, den rechten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_423.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)