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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


einen zurück, und was für eigenthümliche Lieder die singen!“ sagte mir ein jovialer Mann, als ich im Vorübergehen in eine Restauration trat, um meine lechzende Zunge zu erfrischen, und dem zuvorkommend Grüßenden meine Verwunderung über das rasche Tempo der Wallenden aussprach.

Ich kam gerade noch am Kreuzbaum an, als die Procession zu wiederholtem Male die Capelle umzogen hatte und einige der Pilger sich halblaut darüber stritten, ob man zum zweiten oder dritten Male „herum“ sei.

Nach einem Gebete vor dem Crucifixe und in der Capelle zog die Schaar dann ihrer Heimath zu, ich aber begab mich auf den Rückweg zum Innern des Städtchens, welches übrigens, reinlich und sauber gebaut und gehalten, mit seinen meist kleinen, bunten Backsteinhäusern, deren oft verschnörkelte Giebelseiten der Straße zugewandt und deren Fenster von quadratischer Form sind, vollständig holländischen Typus zeigt.

Auf dem Markte wieder angelangt, fiel mir dort ein Verkaufsladen im Erdgeschosse eines Hauses in’s Auge, welcher wirklich künstlerisch schöne Christus-, Marien- und Heiligenbilder von Marmor, Gyps und anderem Materiale enthielt und durch seinen werthvollen Inhalt erfreulich abstach gegen den übrigen Krimskrams ringsumher. Lange fesselten mich und wenige andere Beschauer die schönen Statuen. Drüben aber drängte sich die fromme Schaar um die papierene Mutter Gottes.

Noch hatte ich eine Kirche zu besuchen, an welcher mich mein Weg nach dem Bahnhofe vorbeiführte und in welcher die Pilger ihr letztes Gebet vor dem Heimwege zu verrichten pflegen.

Auf dem Vorplatze steht imponirend über einem Altare eine Gruppe lebensgroßer, recht schön gearbeiteter Figuren, wenn ich mich recht erinnere, die Kreuzigung darstellend; vor ihr lagen Pilger in brünstiger Verehrung. Unter ihnen fiel mir eine Frau auf, welche knieend ihr Gebet verrichtete, jedoch nicht, wie die Anderen, mit gefalteten Händen, sondern mit emporgehobenen, ausgebreiteten Armen und ausgespreizten Fingern. (Figur 11.) Ich fand sie noch in derselben Stellung, als ich nach zehn Minuten wieder aus der Kirche heraustrat.

Letztere ist eine neue, freundliche geräumige Capelle mit zwei schön decorirten Altären, auf deren einem eine Marien-Statue steht, welche dem Thumann’schen Bildchen eher zum Originale gedient haben könnte, als das Idol in der sechseckigen kleinen Capelle.

Vor dem Orte setzten sich die großen, überdeckten zweiräderigen, aber stets nur einspännigen Karren (Figur 12) eines Wallfahrerzuges von einigen Hundert Personen in Bewegung, um den Rückweg anzutreten, die Männer alle baarhäuptig, die meisten in blauen Kitteln und schweren Holzschuhen.

Mich aber führte das Dampfroß von hinnen, nachdem ich noch Gelegenheit gehabt hatte, mich in den Besitz einer kleinen Broschüre zu setzen, betitelt: „Kurze Geschichte des Herzogthums Geldern für Schule und Haus“, aus welcher ich folgende Zeilen excerpire, weil sie einige historische Data enthalten über unsere liebe Frau von Kevelaer:

„Im Jahre 1641 lebte zu Geldern ein unbemittelter Bürger, Namens Heinrich Buschmann, der sich und seine Frau durch einen kleinen Handel nährte und dabei fromm und tugendhaft war. Dieser baute, einer höheren Eingebung folgend, von seinen geringen Ersparnissen ein Heiligenhäuschen zu Kevelaer, in das er am 1. Juni 1642 in aller Stille ein unscheinbares Bildchen der heiligen Jungfrau Maria stellte. Dieses war eine Abbildung eines zu Luxemburg verehrten Muttergottesbildes, welches durch einen Soldaten nach Geldern gebracht und der Frau H. Buschmann geschenkt worden war. – Gott wählt nun oft das Kleine und Unscheinbare, um Großes zu vollbringen; denn schon am selben Tage strömte eine Menge Menschen aus Geldern und der Umgegend herbei, um in dem kleinen und unscheinbaren Bilde die Mutter des Heilandes zu verehren und von ihr Gnade und Hülfe zu erflehen. Bald war der Zudrang so groß, daß bei dem Heiligenhäuschen eine größere Kirche gebaut werden mußte; schon am 22. October 1643 ward der Grundstein gelegt und die Kirche innerhalb zweier Jahre vollendet. Die Sorge für die Pilger ward denn Oratorium aus der Congregation des H. Philipp Neri übertragen und das Kloster von ihnen am 15. Juni 1647 bezogen. Um das Heiligenhäuschen bauten 1654 die Oratorianer die jetzige sechseckige Capelle, und 1664 ließen zwei fromme Männer das Bildchen in einen silbernen, vergoldeten Rahmen einfassen, wozu später noch der Reichsgraf von Oettingen eine große silberne, vergoldete Platte schenkte.

Mit der Zeit wurde die Menge der herbeiströmenden Pilger immer größer, und mochte wohl kein Jahr vergangen sein, wo die Zahl derselben nicht 100,000 überstieg. Auch Personen von hohem und erhabenem Stande kamen nach Kevelaer. So besuchte 1714 König Friedrich Wilhelm der Erste unerwartet diesen Wallfahrtsort; er durchwanderte die Capelle, betrachtete mit Ehrfurcht das Gnadenbild, erkundigte sich nach den geschehenen Wundern, begehrte Rosenkränze und opferte eine Wachskerze; auch forderte er den Superior der Oratorianer auf, daß er eine Gnade erbitten möge. Dieser sprach den Wunsch aus, Se. Majestät möge geruhen, die Verehrung der allerseligsten Jungfrau und alle katholischen Religionsübungen zu schützen und zu begünstigen. Der König versprach dieses sogleich mit den Worten: ‚Ich werde sie schützen, begünstigen, erhalten.‘ – Der König schickte auch 1728 eine Wachskerze von fünfzig Pfund und besuchte 1738 wiederholt Kevelaer.

Gott verherrlichte Kevelaer durch viele Wunder. Bis auf den heutigen Tag ist es ein Ort der Gnade nicht nur für die Umgegend, sondern für weitere Kreise.“ – Namentlich für die Herren Oratorianer, welche sich dort ansiedelten, wollen wir hinzusetzen.




Nervöse Leiden.
Von Dr. J. Schwabe.


„Meine Nerven, meine Nerven! Ach, wenn ich doch keine Nerven hätte!“ Wie oft hört man diese Klage und diesen Wunsch aussprechen, der sich jedoch glücklicher Weise nie erfüllt, denn besser schlechte Nerven als keine – man müßte denn ganz und gar auf seine Existenz verzichten. All unser Denken, Fühlen und Wollen kommt nur vermittelst der Thätigkeit des Gehirns zu Stande, und diese gelangt zu selbstständiger Entwickelung nur durch die Nerven, welche die Vermittelung zwischen dem Gehirne und der Außenwelt bilden und ihm die zur Erweckung seiner Thätigkeit nöthigen Reize zuführen. Ohne Nerven wären wir gedanken- und gefühllose Materie. Leider aber functionirt der wunderbare Apparat, den wir Nervensystem nennen, in Folge krankhafter Vorgänge bisweilen sehr unregelmäßig, und es tritt dann u. A. auch jener Leidenszustand ein, für welchen man noch keinen besseren Namen, als krankhafte Nervosität, Nervenschwäche und dergleichen gefunden hat. Wir beabsichtigen, hier die Erscheinungen, die Ursachen und die Mittel zur Heilung dieses Leidens zu besprechen. Es dürfte dies um so mehr an der Zeit sein, als die Nervosität zu den großen Plagen unseres Zeitalters gehört, in zunehmender Häufigkeit auftritt, das Glück nicht nur der Kranken, sondern auch ihrer Familien dauernd und empfindlich stört und leider nur selten mit den richtigen Mitteln energisch bekämpft wird.

Die an Nervosität Leidenden gehören zu denjenigen Kranken, welche der größten Theilnahme bedürftig sind und doch leider dieselbe meist in viel geringerem Maße finden als andere Kranke. Die meisten Menschen, welche sich eines gesunden Nervensystems erfreuen, wollen dem Leiden des nervösen Patienten gar nicht die Berechtigung einer eigentlichen Krankheit zugestehen; sie halten seine Klagen für Uebertreibung kleiner Uebel und meinen wohl gar, der Kranke finde eine Art von Vergnügen darin, seine Umgebung damit zu langweilen und zu quälen, während doch die Leiden, über welche er klagt, wirkliche und oft recht schwer zu tragende sind, wenn auch Uebertreibung und Mangel an Geduld oft mit unterläuft.

In der bei weitem großen Mehrzahl der hierher gehörigen Fälle sind die Leidenden weiblichen Geschlechts, weshalb in diesen Zeilen von Patientinnen die Rede sein soll. Freilich giebt es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_422.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)