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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Ferienstudien am Seestrande.
Von Carl Vogt in Genf.
2. Gute Freunde.


Den Kampf um das Dasein, den alle Creatur durchfechten muß, bedingt nicht immer den Kampf Aller gegen Alle und noch weniger die unmittelbare Ueberwältigung durch vorragende Macht. Feinere und gröbere Concurrenz ohne besondere Machtentfaltung spielt eine ebenso bedeutende Rolle in der Thierwelt, wie der kriegerische Angriff. Hier entzieht ein Thier dem anderen die Wohnung, dort die Nahrung, in einem anderen Verhältnisse die Mittel zur Athmung oder zur Fortpflanzung. Auch der Einzelkampf ist nicht die allgemeine Regel. Es giebt mehr oder minder zahlreiche Associationen und Gesellschaften zu bestimmten Zwecken, wie z. B. des Schutzes oder der Jagd, wie es Verbrüderungen giebt, welche für alle Lebensfunctionen gelten und bald nur für einige Zeit, bald für ewige Dauer geschlossen werden. Wir wissen, daß Vereinigungen dieser Art sich, bei gewissen Insecten namentlich, bis zu staatlichen Einrichtungen erheben können, welche ein Spiegelbild der menschlichen Verfassungen verschiedener Art darstellen. Aber diese Thierstaaten beruhen, so weit wir sie jetzt kennen, auf der unmittelbaren Geschlechtsfolge; die zu einem Staate gehörigen Individuen sind, wie die Stämme der alten Völker, alle Nachkommen derselben Eltern und miteinander blutsverwandt. Es kann uns also nicht Wunder nehmen, wenn unter ihnen freundschaftliche Beziehungen gepflegt werden, die gemeinsame Zwecke voraussetzen und die vor allen Dingen durch die gemeinsame Wohnung bedingt sind. Die Bienen-, Ameisen- und Termiten-Staaten mit ihren mannigfaltigen Gliederungen und den zahlreichen Formen ihrer Angehörigen beruhen auf gemeinschaftlicher Abstammung und gemeinsamer Wohnung – ohne die eine oder andere dieser Bedingungen sind sie überhaupt nicht denkbar.

Es sind nicht Verhältnisse dieser Art, welche ich hier in das Auge fasse. Wir begegnen im Thierreiche Freundschaften, welche weit über alle Verwandtschaftsgrade hinausgreifen und sich auch kaum auf Pflegung gemeinsamer Interessen erklären lassen. In vielen Fällen freilich liegen diese gemeinsamen Interessen offen da; man begreift leicht, weshalb das Rindvieh in Afrika den Madenhacker auf seinem Rücken umher spazieren und sogar mit dem scharfen Schnabel in das Fleisch einhacken läßt, ohne den Vogel mit seinem Schwanze zu scheuchen – er leistet dem unbehülflichen Vierfüßler den Dienst, die Larven der Biesfliegen, welche in den Schwären der Haut vom blutigen Eiter sich nähren, herauszugraben und so die Eiterbeulen zu heilen. Man begreift auch einseitige Verhältnisse, die bis zum Schmarotzerthume hinführen, in welchen der Mächtigere dem Schwächeren Wohnung und Nahrung gewährt, weil er in seiner Unbehülflichkeit Letzteren nicht abschütteln kann; ich werde wohl solche Verhältnisse in einem späteren Artikel zu berühren haben. Aber nur schwer läßt sich einsehen, warum der gefräßige Octopus, Dintenfisch oder Pulpe, der nach jedem Thiere, das ihm in die Nähe kommt, den mit hunderten von Saugnäpfen bewehrten Arm auswirft, warum dieser mit dem nicht minder räuberischen Meeraale (Conger) friedlich unter demselben Steine haust, ohne ihm etwas zu Leide zu thun, während jeder andere Fisch ihm als Beute gefällt. In einem unserer Aquarien zu Roscoff saßen zwei Pulpe, zwei Meeraale und etwa ein Dutzend Schleimfische (Blennius) zusammen – Letztere höchst lächerliche, naiv-dumme Bursche, mit weißen Schnurrbärten und steil abfallendem Schafbocksprofil, die auf ihren Brustflossen am Boden umherhüpften, wie Bachstelzen, und mit offenbarer Neugierde sich um jedes Neue in dem Aquarium sammelten. Die Pulpe saßen in zwei Ecken, pustend und wasserspeiend, indem ihre Kiemenhaut mit dem Trichter davor wie ein Blasbalg arbeitete; die goldgrünen Katzenaugen waren bis auf einen fast unsichtbaren Spalt zugekniffen, die acht langen mit Saugnäpfe besetzten Arme eingezogen. Die Schleimfische hüpften herbei, wie neugierig freche Sperlinge, sahen sich die lauernde Bestie an, stellten sich im Halbkreise auf und rückten mit einigen Sprüngen so lange näher, bis der Pulpe nach dem nächsten einen Arm auswarf. Entsetzt sprang dieser zurück, und der ganze Schwarm stob auseinander, um nach einiger Zeit das Spiel auf’s Neue zu beginnen. Bei Tage angelte der Pulpe vergebens; niemals erwischte er einen Schleimfisch. Aber bei Nacht mußte die Jagd erfolgreicher sein, denn an jedem Morgen constatirten wir eine Abnahme in der Zahl der Schleimfische. Während also hier offene Feindschaft herrschte, schwamm der Meeraal sorglos mit graziösen Schwingungen des Leibes heran und steckte seinen Kopf häufig unter den Leibessack oder sogar bis in die Athemhöhle des Pulpen hinein, ohne daß dieser die geringste Neigung gezeigt hätte, ihn festzuhalten und zu verspeisen. Während bei dem Annahen der Schleimfische der Pulpe sichtlich seine Farbe wechselte und die tückischen Augen in lebhafterem Glanze strahlten, brachte der Meeraal nicht die geringste Farbenveränderung hervor und die gefährlichen Arme wurden sogar in ihrer Stellung verrückt, wenn es dem Fische gefiel, den spitzen Kopf keilförmig unter sie einzudrängen. In der Nacht mußten ebenfalls unsere beiden Gesellen, der Fisch und das Weichthier, gute Freunde bleiben; die Schleimfische waren schon längst zu Grunde gegangen, als Pulpe und Meeraale noch friedlich beieinander hausten.

Aber es giebt noch engere Freundschaften zwischen noch weiter auseinanderstehenden Thieren, die, wie es scheint, nur auf einseitigem, materiellem Interesse beruhen, wo sogar der Stärkere den Schwächeren mit einer fast rührenden Sorgfalt pflegt und sich bemüht, ihm das Leben so viel wie möglich zu versüßen, obgleich dieser, so viel man ersehen kann, die vielfachen geleisteten Dienste in keiner Weise durch Gegendienste wett zu machen sucht. Ein solches Verhältniß will ich dem Leser vorführen.

Die Ebbe läßt bei dem Rückzuge der Gewässer zahlreiche Löcher, Tümpel und Gräben zurück, in welchen sich die Thiere sammeln, denen der Ausweg versperrt ist. Muscheln, Schnecken, Krabben, Ringelwürmer, Krebse treiben da ihr Wesen. Sobald der Tritt des Menschen aus der Ferne her sich empfinden läßt, wird Alles ruhig. Die Krebse huschen unter Tang und Steine; die Schnecken saugen sich fest; die Muscheln ziehen den Fuß ein; die Krabben wühlen sich in den Sand. Kommt man herzu, so liegen auf dem Boden nur einige scheinbar leere Schneckenschalen umher. Man bleibt still und bewegungslos am Rande des Tümpels stehen, scharf den Boden beobachtend. Da regt sich Etwas an einem Tritonshorn (Buccinum). Die Schale richtet sich auf und huscht mit einigen Schritten über den Boden hin. Eine zweite, eine dritte folgt mit gleichen Bewegungen, welche eher denen eines Laufkäfers, als einer träg hingleitenden Schnecke gleichen. Bald krabbelt es von allen Seiten, und nun sehen wir auch, daß aus den Schalen lange, fadenförmige Fühlhörner hervorstehen, daß zu beiden Seiten der Schalenöffnung mit spitzen Klauen bewaffnete Füße sich hervorstrecken und daß eine große Krebsscheere drohend vorgehalten wird, während die Schneckenschale sich weiter bewegt. Kein Zweifel mehr – unsere Schalen sind von den bekannten Eremitenkrebsen (Pagurus; französisch Bernard l’Ermite) bewohnt. Wir sammeln einige Dutzend, tragen sie nach Hause und setzen sie in ein Aquarium, um sie beobachten zu können. Bei recht reichlichem Wasserzufluß kann man sie lange am Leben erhalten. So lange man sie beunruhigt, bleiben sie in die Schale zurückgezogen, deren Oeffnung sie mit der einen vorgehaltenen Scheere vollständig verschließen – läßt man sie ruhig, so beginnen sie bald ihr emsiges Treiben.

Drollige, windschiefe, aber gewiß höchst intelligente Gesellen! Zuerst machen sie sich mit ihrem Gefängniß bekannt. Jede Ecke wird ausgekundschaftet, jeder Stein am Boden rundum mit den dunkelgrün glänzenden Stielaugen beguckt und mit den Fühlhörnern betastet. Unter keinen Umständen wird die nöthige Vorsicht außer Augen gelassen. Die Scheeren sind stets ungleich und verschieden groß; die kräftigere wird vorgehalten, zum Kneipen und Zwicken bereit, die kleinere zurückgebogen, um bei jeder drohenden Gefahr sogleich mit dem Kopfe und dem Vorderkörper in der Schale verschwinden zu können. Begegnen sich zwei Eremiten, so stutzen sie, springen zurück, setzen sich in Vertheidigungszustand, indem sie die Fühler zurückbiegen und die geöffnete Scheere vorhalten; meist zieht sich der Schwächere

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_416.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)