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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Die Schloßmühle lag hinter ihnen, altersdunkel, stolz in ihrer Ehrwürdigkeit, aber auch abgewendet mit ihren Fenstern, als zürne sie, daß man ihrem grünen Gartenmantel diesen modernen Saum angeflickt habe. Sie selbst hatte sich keiner Veränderung unterworfen; nur die alte, halbverwischte Sonnenuhr war aufgefrischt und die kleine Thür nach dem anstoßenden Parke zugemauert worden. Die Schloßmühle stand in keiner Beziehung mehr zu dem ehemaligen Besitz der verblichenen Ritter von Baumgarten, die ihr vor Zeiten den herrschaftlich klingenden Titel verliehen hatten. Aber der tosende Lärm, das klopfende Herz in dem ehrwürdigen Bau des Mittelalters klang in verjüngter, erhöhter Kraft, und der in den Mühlhof mündende Fuhrweg war befahrener als je; das „herrenlose Geschäft“ ruhte in starker, sicherer Hand und wurde mit klugem Blicke geleitet. Käthe hatte Glück gehabt bei ihrem Unternehmen. Sie hatte für die Mühle einen braven, sachkundigen Geschäftsführer gefunden, und in der Buchführung stand ihr der gänzlich verarmte Kaufmann Lenz zur Seite.

Als Lehrling war sie in dem Comptoir eingetreten, das sie in der Mühle geschaffen, aber bei ihren bedeutenden Schulkenntnissen, ihrem scharfen, klaren Urtheil und Ueberblick war sie ihrem Lehrer und Meister binnen Kurzem ebenbürtig geworden. Sie arbeitete in der That, „Tag für Tag“, wie ein Mann – das Geschäft wuchs und erweiterte sich in rapider Weise und zeigte sehr bald Erfolge, wie sie selbst der Schloßmüller nicht errungen hatte. Und das, was sie auf ihrem selbstgewählten rauhen Lebenswege stärkte und ermuthigte, waren die zufriedenen Gesichter um sie her; es war Jedes an seinem Platze. Sie hatte die Wittwe des verunglückten Franz mit ihren Kindern bei sich behalten und ihr ein Asyl in einem neuhergerichteten, kleinen Seitengebäude der Mühle für zeitlebens angewiesen. Die Frau besorgte mit Suse zusammen, nach wie vor, die kleine zur Mühle gehörige Oekonomie und das Hauswesen, und die Kinder erhielten eine Ausbildung, wie sie ihr verstorbener Vater, der mehr auf die materiellen Errungenschaften bedacht gewesen war, sicher nie bewerkstelligt hätte.

Von der großen Hinterlassenschaft des Schloßmüllers war Käthe in der That nichts verblieben, als die Mühle und einige Tausend Thaler, die sie mit dem Stück Gartenboden zugleich von ihrem Vormunde erbeten und erpreßt und den Arbeitern zu ihrem Häuserbau geliehen hatte. Die vielen Hunderttausende waren in den Flammen spurlos verschwunden, und das wenige Gold und Silber, das man geschmolzen später unter Schutt und Trümmern fand, rührte wohl eher von Eßgeräth und Trinkbechern her, als von Münzen. Bei dem auf die Explosion folgenden geschäftlichen Zusammensturze kamen viele Gläubiger, trotz der vorhandenen Liegenschaften und Werthobjecte, um ihr Geld; der Concurs erwies sich als einen der schlimmsten, hoffnungslosesten, die der große Krach hinter sich herschleppte. Villa und Park waren wieder in altadlige Hände gekommen, und der neue Besitzer ließ schleunigst die Thurmtrümmer forträumen, das Wasser in den Fluß zurückleiten und den Graben zufüllen; selbst der geborstene Hügel wurde der Erde gleichgemacht, auf daß der ehemals ritterliche Grund und Boden durch Nichts mehr an die Zeit erinnere, wo sich der Uebermuth eines Parvenü hier breit gemacht und ein schmachvolles Ende genommen habe. Auch der alte, ehrwürdige Holzbogen, der nach dem Hause am Flusse führte, war abgebrochen worden. Man ging jetzt über die der Spinnerei nahegelegene Steinbrücke und einen hübschen Fußweg am jenseitigen Ufer entlang, wenn man nach dem Doctorhaus kommen wollte.

Das Haus, das im Spätherbste noch vollständig restaurirt worden war, stand unbewohnt; die alte Freundin der Tante Diakonus war den Winter über in der ehemaligen Stadtwohnung des Doctors verblieben und wollte erst mit Beginn der schöneren Jahreszeit wieder hinausziehen. … Dorthin wanderte Käthe fast jeden Tag. Ob die Herbstnebel dampften, und Weg und Steg von Nässe triefen mochten, ob die Schneeflocken stöberten oder der Wind eisig von Norden herblies: sowie die Abenddämmerung hereinbrach, warf Käthe die Feder fort, hüllte sich warm ein und huschte hinaus in’s Freie. …

Da schüttelte sie die Zahlenlast, das starre, trockene Geschäftswesen, unter welchem sie ihr heißes, klagendes Herz geflissentlich vergrub, für eine halbe Stunde ab; dann war sie nicht die ernste, geschäftspünktliche Herrin, deren achtsamem Auge nicht die kleinste Unregelmäßigkeit entging, die an sich und ihre eigenen Leistungen die höchste Forderung stellte, und in weiser Vertheilung von Lob und Rüge dasselbe bei ihren Untergebenen zu erzielen wußte, ohne daß je ein hartes Wort von ihren Lippen, ein heftig zürnender Blick aus ihrem Auge kam – sie war in diesen Dämmerstunden nur das junge Mädchen, das seiner tiefen Sehnsucht Raum gab, das, bei aller Härte und Strenge gegen seine unbezwingliche Neigung, sich doch Momente der wehmüthigen Träumerei, der Hingabe an den Schmerz zugestand.

Dann trat sie durch die schmale, knarrende Stacketthür, die in’s Feld hinausführte und auf welche sie, Henriette auf den Armen, nach dem Attentat im Walde, todesermattet zugeschritten war. Im Vorübergehen strich sie stets mit schmeichelnder Hand über das grünangelaufene Steinpostament, inmitten des Rasengrundes, neben welchem sie einmal mit Bruck gestanden, und suchte dann die Stelle auf, wo der Gartentisch postirt gewesen – dort hatte Bruck um ihretwillen schwer gelitten – das wußte sie nun. Sie umging das einsame Haus mit seinen verrammelten Fensterläden, seinen neuen, ungeheizten Schlöten und schnarrenden Wetterfahnen und stieg die schlüpfrigen, winternassen Stufen hinauf, um das Ohr an das Schlüsselloch der Hausthür zu legen. Jenes schwache, scheinbare Seufzen, das der von dem geöffneten Bodenraum herabkommende Zugwind verursachte, schlich durch den weiten Flur; neben und über der Thur rasselten dürre Weinranken, und manchmal flog noch ein verspäteter Spatz unter den Dachvorsprung – das war alles Leben, welches sich in der Verlassenheit regte, und doch horchte das junge Mädchen begierig darauf; es war doch nicht Grabesstille, und das Recht, diese Thür wieder zu öffnen, lag ja noch in geliebten Händen, und eines Tages wurden auch wieder Schritte laut da drinnen, und liebe Gesichter sahen zu den Fenstern heraus – das war ja Alles festgestellt, wenn Käthe sich auch dabei sagen mußte, daß sie selbst dann stets verreisen werde, bis – Bruck einmal ein weibliches Wesen am Arme führte, in dessen Hand sie den Ring legen durfte.

Er mochte wohl vielumworben sein in L…g. Der Ruf seines Namens wuchs von Tag zu Tage; eine große, auserwählte Zuhörerschaft drängte sich zu seinen Vorlesungen, und die Nachricht von verschiedenen glücklichen Curen, denen er hervorragende Persönlichkeiten unterworfen hatte, machte die Runde durch die Welt. Die Briefe der Tante Diakonus an Käthe – sie schrieb ihr sehr oft – athmeten Glück und Seligkeit; sie waren für das junge Mädchen eine Quelle des Genusses, aber auch furchtbarer, neuaufgerüttelter Seelenkämpfe, und deshalb antwortete sie ziemlich sparsam und zurückhaltend. Der Doctor selbst schrieb nicht er hielt streng an seinem Versprechen fest, sie nie zu bestürmen – und begnügte sich stets mit einem Gruße, den sie freundlich und pünktlich erwiderte.

So verlief ihr junges, einsames Leben Tag für Tag. Sie ahnte nicht, daß man sich in der Stadt viel mit ihr beschäftigte, daß sie jetzt, nach ihrer energisch durchgesetzten Mündigsprechung, wo sie sich so resolut und willensstark an die Spitze ihres Etablissements gestellt, weit mehr das Interesse und die Beachtung herausfordere, als früher durch ihren unliebsamen Goldfisch-Titel. … Dieser ausgezeichnete Leumund führte denn auch sehr oft einen Besuch in die Schloßmühle, den sie das erste Mal mit unverhohlenem Erstaunen begrüßte. Die Frau Präsidentin Urach verschmähte es durchaus nicht mehr, auf ihren Spaziergängen mit der ihr treugebliebenen Jungfer in der Mühle einzukehren, um, „wie es ihre Pflicht gegen ihren verstorbenen theuren Schwiegersohn erheische, nach seiner Jüngsten zu sehen“.

Die alte Dame war schon wenige Wochen nach ihrer Abreise in die Residenz zurückgekehrt; sie hatte es draußen „nicht ausgehalten“. In einer engen Straße ein paar kleine, hochgelegene Zimmer bewohnend, lebte sie, ihren kargen Mitteln gemäß, zurückgezogen und halbvergessen von der Welt. Der Medicinalrath von Bär hatte sich ein Landgut gekauft und der Residenz grollend den Rücken gekehrt – er war für sie verschollen, und von den übrigen Freunden besuchten sie nur noch einige Altersgenossinnen und der pensionirte Oberst von Giese, die manchmal zu einem Spielchen bei ihr zusammenkamen.

Sie fühlte sich mit einem Male so wohl „in der großen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_411.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)