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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Stadt sprang. Aus dem sechszehnten Jahrhundert wäre die russische Kaiserkanone mit ihrem 90 Centimeter weit gähnenden Rachen, der zu Trier gegossene Greif von fünf Meter Länge und die Colubrine (Feldschlange) von Danzig, welche sieben Meter lang war, zu erwähnen. Die letzteren beiden Geschütze hatten aber, ebenso wie die später in Berlin gegossene colossale Asia, nicht das Caliber der älteren Riesenkanonen, aus denen man auch gelegentlich mit Hackblei, Nägeln, Glasscherben, ungelöschtem Kalk etc. gefüllte Tonnen, ja Fässer mit Unrath und Pestleichen abschoß, um die Festungen zur schleunigen Uebergabe zu zwingen. Vielmehr war man dazu gekommen, die größeren, nunmehr aus Eisen gegossenen und oft mit Pulver gefüllten Bomben, aus kürzeren und weiten Mörsern zu schießen, die lange Zeit in der französischen Armee den Spitznamen des Herrn von Comminges, eines sehr beleibten Officiers, führten, nach welchem sie Ludwig der Vierzehnte bei ihrer ersten Anwendung getauft haben soll. Der Berühmteste unter den Nachkommen derer von Comminges ist ein als Invalide im Arsenale von Woolwich bewahrter Riesenmörser, der, wie die „tolle Grete“, aus Eisenstäben hergestellt, 90,000 Kilogramm wiegt, aber schon nach Entsendung der vierten Bombe, à 1500 Kilo, pensionirt werden mußte und daher wegen seiner unnütz verwendeten bedeutenden Kosten von dem Volkswitze „Palmerston’s Thorheit“ getauft wurde.

Die neueren Riesengeschütze, welche dem Festungskriege, dem Angriffe und der Vertheidigung der Seeküsten gewidmet sind, übertreffen ihre Vorgänger natürlich unendlich, wenn auch nicht an Größe, so doch an Material, Dauerhaftigkeit, Treffsicherheit und Lenksamkeit. Es sind größtentheils Hinterlader mit gezogenen Läufen, deren Bedienung und Handhabung durch allerhand mechanische Vorrichtungen so erleichtert wird, daß z. B das große Krupp’sche Geschütz der Wiener Weltausstellung von einer einzigen Person gerichtet und geladen werden kann, obwohl das Rohr 6,7 Meter lang und 36,000 Kilogramm schwer ist, während die zuckerhutförmige Bombe gegen sechs Centner wiegt. Das Schießpulver, mit welchem diese Eisenlasten fortgeschossen werden, würde schwerlich von einem Uneingeweihten als Schießpulver anerkannt werden, denn die Körner desselben stellen, damit es langsamer und doch wieder nicht zu langsam abbrennt, zollhohe sechsseitige Säulchen, die mit feinen Röhren durchbohrt sind, dar, von denen 1424 Stück, aneinandergesetzt wie die Bienenzellen in einer Honigwabe, die ellenlange Patrone bilden. Der Schuß ist mit Einschluß der Bombe nicht unter fünfhundert Mark herzustellen, ein sehr kostspieliges Vergnügen, neben welchem die Redensart „nicht einen Schuß Pulver werth sein“ wesentlich an ihrer Bedeutung einbüßt.

Ein solches Geschütz ist im Uebrigen ein wahrer Triumph der rechnenden Künste, ein höchst gelehrtes und wohlüberlegtes Exemplar der berühmten ultima ratio, bei welchem alle Elementargeister zu Hülfe gerufen sind, um die fünfhundert Mark wohl anzuwenden. Der elektrische Strom wird angestellt, die Zeit zu messen, welche der Zuckerhut braucht, um von der Pulverkammer die Mündung zu erreichen, die Anfangsgeschwindigkeit, mit welcher das Geschoß wirbelnd den Lauf verläßt, höchst subtile Rechnungen, um den Bogen zu bestimmen, welchen die sechs Centner in der Luft beschreiben, und die Kraft, mit der sie auf Mauern und Panzer prallen. Mechanische oder hydraulische Vorrichtungen besorgen meist die ganze Handhabung, und der Kolben einer Oelkammer, die sich nur durch feine Oeffnungen entleeren kann, empfängt wie ein höchst elastisches Polster den nicht eben sanften Fußtritt, mit welchem sich die sechs Centner in die Luft schwingen und von dannen trollen.

Solcher Großmäuligkeit konnte nur mit Dickfelligkeit begegnet werden, und im nordamerikanischen Bürgerkriege bereits hielten es die Kriegsschiffe für nothwendig, wie die Richter des Mittelalters, ein Panzerhemd anzulegen. Damit kam die kostspielige Frage auf’s Tapet, wie viel Schichten Eisenblech man auf einander schweißen müsse, um dem Anprall der modernen Culturgrüße mit Ruhe entgegensehen zu können. Man versuchte es nach einander mit zehnzölligen, zwölfzölligen, vierzehnzölligen Platten, um sie nach einander mit entsprechend verstärkten Geschützen durchzuschlagen und in Fetzen zu zerreißen. Dem Krupp’schen Sechshundertpfünder folgte ein Tausendpfünder, und dieser ist vor einigen Monaten in Woolwich durch die Fertigstellung der Einundachtzig-Tonnen-Kanone überboten worden, deren Lauf acht Meter lang ist und deren Geschoß von sechshundertfünfundzwanzig Kilogramm Schwere nahezu zwei Centner Pulver für jeden Knall erfordert. Natürlich müssen nun die Panzer wieder um eine ganze Anzahl Eisenschichten dicker gemacht werden, und so geht die gegenseitige Schrauberei zwischen Kanone und Panzer weiter, bis das Kriegsboot wie das Staatsschiff die ungeheuren Lasten nicht mehr tragen kann, in seinen Bewegungen schwerfällig wird und bei der nächsten Gelegenheit untergeht, wie bereits mehrere englische Panzerboote gethan haben. Natürlich ist England bei dieser Panzerei am meisten engagirt, und in den Sheffielder Schmiedewerkstätten soll man eben mit zweiundzwanzig Zoll starken Panzern fertig geworden sein.

In dieses unabsehbare Panzer- und Kanonen-Duell fällt wie ein Lichtstrahl die Nachricht vom Dülmener Schießplatze, daß man dort durch genau gleichzeitige Abfeuerung mehrerer kleinerer auf dasselbe Ziel gerichteter Geschütze, welche der elektrische Strom bewirkt, denselben Zerstörungseffect erreicht hat, wie mit einzeln abgefeuerten Riesengeschützen. Man warf da zum Beispiel zwölf Centner Eisen mit einem Schlage auf einen mächtigen Schiffspanzer aus zweihundert Meter Entfernung, indem man vier Centner Pulver in vier Rohren wirken ließ, und siehe da, der vierundzwanzig Zoll dicke Panzer aus Schmiedeeisen und Teakholz, den man da zum Spaß für 150,000 Mark hingestellt hatte, war vollkommen zerfetzt. Damit wäre dann vielleicht vor der Hand dem Kanonenwachsthum ein Ziel gesetzt und die Panzerei, welche die Schiffe zuletzt unfähig macht, zu manövriren, so daß sie wie ihre Kanonenthürme nur noch durch complicirte hydraulische Maschinen bewegt werden können, als Thorheit erwiesen, wozu sich dann insbesondere die Steuerzahler Glück wünschen könnten. Denn solche Panzerboote kosten Millionen und die Riesengeschütze abermals Millionen, sintemalen mehrere Tausend Tiegel Gußstahl, jeder zu einem halben Centner Inhalt, erforderlich sind, um jene unersättlichen Schlünde zu umgießen, welche den Reichthum der Cultur-Länder aufzehren und vernichten.

Aber auch die Frage, ob kostbarer Gußstahl oder Bronze das geeignetere Material sei, ist wiederum zu einer Staats-Lebensfrage geworden, seit man der Bronze durch Zumischung einer ganz kleinen Menge Phosphor (dem Bruchteile eines Procentes), durch nachheriges Walzen oder Pressen eine Zähigkeit mitzutheilen gelernt hat, welche nach Behauptung österreichischer Artilleristen fast dreimal so groß ist, wie die des besten Gußstahls. Die Uchatius-Kanonen, zu denen, wie die Zeitungen sagen, ein deutscher oder belgischer Chemiker das Material, ein französischer Techniker die Bearbeitungsweise und Krupp das Modell geliefert haben, werden durch Erweiterung der gebohrten Bronzerohre durch eingepreßtes Wasser, womit man bekanntlich einen ungeheuren Druck ausüben kann, hergestellt. Die Laufwandung erwirbt dabei die größtmöglichste Elasticität und soll dem Springen viel weniger ausgesetzt sein, als der sprödere Gußstahl, wie denn diese Geschütze dem Wetter widerstehen und natürlich niemals Gefahr laufen, „altes Eisen“ zu werden. Die Engländer scheinen immer noch mit gewöhnlicher Bronze und Schmiedeeisen auszukommen, indem sie die Läufe aus mehreren Metalllagen zusammensetzen und die Festigkeit des Gefüges, umgekehrt wie die Oesterreicher, die von innen ausweiten, durch glühend aufgezogene Ringe, welche sich beim Erkalten zusammenziehen, zu erreichen wissen.

Während die meisten militärischen Verbesserungen dem Staate sehr theuer zu stehen kommen, weil sie in der Regel zu einer Umwälzung im gesammten Bewaffnungswesen führen, ist wenigstens eine Entdeckung auf artilleristischem Gebiete als billig zu preisen, diejenige Abel’s nämlich, daß die beste Füllung für Bomben und Granaten reines Brunnenwasser ist. Seine Wasserbomben, die sich bei den im vorigen Jahre in England angestellten Schießversuchen als außerordentlich wirksam erwiesen haben, enthalten nämlich in einer abgeschlossenen Kammer nur eine geringe Menge Explosionsmasse, gewöhnlich Schießbaumwolle. Ihre Wirksamkeit beruht auf der geringen Zusammendrückbarkeit des den übrigen Raum ausfüllenden Wassers und der Gleichmäßigkeit, mit welcher es die Erschütterung nach allen Richtungen fortpflanzt. Die gußeiserne Bombe wird dadurch in eine viel größere Anzahl von Stücken zersprengt, als durch die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_406.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)