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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

unten hatten die von der Stadt herdringenden Gerüchte bombenartig eingeschlagen, um so mehr, als schon am ersten Morgen nach dem Unglück einige Scharfsichtige unter den Leuten scheu und versteckt darauf angespielt hatten, daß möglicher Weise „doch nicht Alles mit rechten Dingen zugegangen sei“. Nun erwartete man jeden Augenblick, die Gerichtscommission in das Haus treten zu sehen – ein Jedes griff nach dem Seinigen, und dabei wurden in der offenstehenden Speisekammer die langen Tafeln voll Kuchen und Torten geplündert und die Bowlen ausgetrunken, die für den Polterabend bestimmt gewesen waren.

Und von dieser Region aus kamen auch der Frau Präsidentin Urach die ersten bestürzenden Anzeichen, daß ihr Regiment in der Villa Baumgarten auch von Anderen als beendigt angesehen werde. Während sonst auf ihren ersten Klingelzug die Betreffenden herbeigestürzt warm, mußte sie wiederholt schellen, ja, sich zum Rufen bequemen; sie hörte, wie draußen ihr Löwenhündchen, das die Dienerhände bisher als den Abgott der Herrin cajolirt und gehätschelt hatten, unter einem Fußtritte aufschrie – und die Augen, die sie bis jetzt nur in scheuer Ehrfurcht niedergeschlagen gekannt hatte, sahen wie herausfordernd in ihr strenges Gesicht.

Von dieser Wandlung der äußeren Verhältnisse wurden die Bewohner der Beletage nicht berührt. Henriette hatte sich stets gütig und nachsichtsvoll – für die Dienerschaft war die kleine, gebrechliche Gestalt immer ein dem Tode geweihtes Kind gewesen; man war gewöhnt, in ihrer Nähe lautlos auf den Zehenspitzen zu gehen und nur mir sanftgedämpfter Stimme zu ihr zu reden, und in diesen Rücksichten erschöpfte man sich heute doppelt, da ja „der Herr Hofrath“ gesagt hatte, daß es bedenklich um die Kranke stehe.

Ja, sie lag droben im Wohnzimmer, fast nur noch kenntlich an den wunderschönen blauen Augen – wunschlos und willig den lebensmüden Leib der dunklen Gewalt endlich überlastend, die ihr seit Jahren, Schritt für Schritt, auf den Fersen gefolgt Sie war sich vollkommen bewußt, daß sie sterben müsse; sie hatte alle schreienden Farben, mit denen sie sich stets einen Schein von Gesundheit und Jugendblüthe zu erborgen gesucht, nunmehr mit Abscheu von sich gewiesen. Wie in Schnee gebettet, lag sie in den weißen Kissen und Decken, unter der weich herabfließenden Mullgardine. Es blieb ihr erspart, den flüchtigen Fuß von der heimischen Schwelle zu wenden, und, Flora’s Programm gemäß, in der Schloßmühle ein Asyl zu suchen. Sie ging, noch ehe das Gericht im Namen des Gesetzes, im Namen der geängstigten Gläubiger seine Hand auf die Reste eines in alle Lüfte zerstobenen märchenhaften Reichthums legte; sie ging, ohne noch hören zu müssen, daß das Brandmal eines schweren Verbrechens das Andenken ihres Schwagers verunehre, dessen fürchterliches Ende auch zugleich die schwache Wurzel zerrissen hatte, mit welcher sich das zarte, so lange angefeindete Mädchendasein noch an die Erde festgeklammert. … Und was sie stets so heiß gewünscht, es erfüllte sich nun doch noch: sie wurde bis zum letzten Athemzuge von den Augen ihres Arztes behütet; er hatte ihr gesagt, daß er bei ihr bleiben und nach L…g nicht eher gehen werde, als bis es „besser um sie stehe“. Nun war sie wieder so unaussprechlich glücklich, wie sie es im Fremdenzimmer der Tante Diakonus gewesen: Doctor Bruck pflegte sie, und ihm zur Seite stand Käthe – die beiden Menschen, die sie auf Erden am meisten geliebt hatte.

Käthe erholte sich rasch. Schon am Nachmittag des zweiten Tages war sie aufgestanden. Die schmale, um den Kopf gelegte Binde und die über den Rücken hinabhängenden Flechten, die ihrer Schwere wegen nicht über der Stirn liegen durften, erinnerten daran, daß sie Reconvalescentin sei, sonst aber hätte wohl Niemand geahnt, daß der fürchterliche Stoß der Explosion diese schlanke Mädchengestalt weithin geschleudert und mit erstickenden Wassermassen überschüttet habe, daß sie verloren gewesen wäre, wenn nicht das Auge der Liebe sie gesucht. Ihre Haltung war kraftbewußt und energisch wie vorher, und die ihr eigene Sammlung und Sicherheit in ihr ganzes äußeres Wesen zurückgekehrt, wenn es auch stürmisch genug in ihrer Seele aussah. Neben dem tiefen Leid um die sterbende Schwester, um Römer’s tragisches Ende, drängte sich ihr die furchtbare Gewißheit auf, daß ihr Schwager und Vormund bei dem grauenhaften Vorgang nicht ohne Schuld gewesen sei – auf eine derartige Andeutung, die sie angstvoll gegen Doctor Bruck gemacht, hatte er nicht vermocht „nein“ zu sagen. Er war still und schweigsam wie immer. Das erheischte schon Henriettens Zustand, aber es lag etwas eigenthümlich Feierliches in dieser Verschlossenheit, von welcher auch die Tante Diakonus angesteckt zu sein schien.

Die alte Frau war in den Nachmittagsstunden des ersten Tages, nach einer leise geführten Unterredung mit dem Doctor, verweint und doch unverkennbar freudig bestürzt, aus dem Cabinet gekommen, das an Henriettens Schlafzimmer stieß, und hatte sich dann verabschiedet, um Betten und Möbel aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung des Doctors schaffen zu lassen, wohin sie einstweilen mit ihrer Freundin übersiedeln sollte, bis die Reparaturen an dem verwüsteten Doctorhause vollendet seien. Sie hatte mit keinem Laute verrathen, was in ihr vorgehe, aber sie hatte die Villa verlassen, um nur dann und wann, Henriette’s wegen, für einige flüchtige Augenblicke vorsprechen, wobei sie augenscheinlich bestrebt war, einer Begegnung mit Flora auszuweichen!

Die schöne Braut war auch nur ein einziges Mal in der Beletage erschienen, um nach der Schwerkranken zu sehen, just zu der Zeit, wo sich Doctor Bruck in Folge einer dringliches Aufforderung zum Fürsten begeben hatte. Es war zu sonderbar und verletzend, daß sie, Henriettens Salon, passirend, an Käthe’s Lager vorüberschritt, als sei dort, wo sich die verwundete Schwester zu ihrer Begrüßung aufrichtete, die leere Wand. Sie hatte keinen Blick, kein Wort für „die Jüngste“ und vermied es, durch den Salon zurückzukehren, indem sie sich von der Kammerjungfer die direct in den Corridor führende Thür des Schlafzimmers aufschließen ließ. Zu alledem berichtete Nanni mit zweideutiger Miene, daß das gnädige Fräulein drunten sich zur schleunigen Abreise rüste.

Es war Käthe so schwer beängstigend zu Muthe, als starrten sie aus allen Zimmerecken dunkle Räthsel an; sie wähnte den Plafond, selbst den Himmel über ihrem Haupte nicht mehr sicher, weil alles Bestehende der stattgehabten entsetzlichen Erschütterung nachstürzen müsse.

Einigemal im Laufe des Tages kam auch die Präsidentin herauf, eine schwarze Krepphaube über dem verstörten Gesichte, und treulos verlassen von der kühlen, stolzen Ruhe eines wohlgeschulten Geistes, der sich, wie sie stets behauptet, gerade in schlimmen Lebenslagen am glänzendsten bewähren müsse. Sie hatte nur Thränen und ein krampfhaftes Händeringen für die „fürchterliche Situation“, in welche mit einem Schlag alle Bewohner der Villa geschleudert waren. Die erschöpfte Kranke athmete stets auf, wenn der letzte Zipfel des schwarzen Wallkleides der Großmama hinter der Thür verschwand.

Es war am Morgen des dritten Tages nach dem Ereignisse, als die alte Dame plötzlich die Thür des rothen Studirzimmers aufriß und, ein Zeitungsblatt in der Hand, über die Schwelle wankte. Flora war eben beschäftigt, Etiketten für ihre Effecten zu schreiben; sie erhob sich und trat ahnungsvoll auf die Großmama zu, die in einen Armstuhl sank.

„Meine viertausend Thaler!“ stöhnte sie. „Kind, Kind ich bin von Schurken betrogen um mein Bischen Hab und Gut, um das kärgliche Erbe, das mir der Großpapa hinterlassen hat. … Meine viertausend Thalern die ich behütet habe wie meinen Augapfel –“

„Nein, Großmama, bleibe bei der Wahrheit, sage lieber, Deine viertausend Thaler, mit denen Du allzu sanguinisch und leichtgläubig speculirt hast!“ fiel Flora in unerbittlichem, hart strafendem Tone ein. „Wie habe ich Dich gewarnt! Aber da wurde ich ausgelacht und verhöhnt, weil ich meine wohlgesicherten Staatspapiere nicht auch ‚mit arbeiten‘ ließ. Das Etablissement, bei welchem Du Dich betheiligt, hat fallirt?“

„Eclatant! Schurkisch! Da lies! Ich glaube, nicht fünfzig Thaler bleiben mir,“ rief die Präsidentin mit brechender Stimme und schlug die Hände vor das Gesicht. „Nur Eines fasse ich nicht,“ fuhr sie, wieder emporschreckend, fort, während Flora die bezügliche Nachricht überflog. „Das Blatt bezieht sich auf frühere Mittheilungen; der Sturz muß demnach schon vor circa vier bis fünf Tagen erfolgt sein – und Moritz hat nichts davon gewußt – unbegreiflich.“

„Sollte das nicht mit dem ausgebliebenen Börsenblatte zusammenhängen? –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_378.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)