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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


waffenlos, fünf Todeswunden in Brust und Haupt, ein hagerer Greis. Der letzte Häuptling der Kommune, Delescluze, hatte hier um 12 Uhr Mittags den Tod gesucht und gefunden. Nicht gesucht, aber doch mit leidlicher Fassung hingenommen hatte den Tod der Prokurator der Kommune, Rigault, welcher im Bürgerwehranzug ergriffen, erkannt und an der Ecke der Rue Gay-Lussac von Chasseurs des 19. Regiments füsilirt worden war. Verschiedenen anderen Mitgliedern der Kommune war dasselbe widerfahren. So dem Bürger Millière, welchen Soldaten auf den Stufen des Pantheon niedergeschossen hatten. Vielen Kommunarden jedoch gelang die Flucht, theils noch während der Agonie der Kommune, indem sie sich durch die von den Deutschen besetzte Fortslinie zu schmuggeln wußten, theils später. So dem pfiffigen Pyat, der allzu zärtlich für seine sorgfältig gepflegte Haut besorgt war, als daß er sie hätte riskiren mögen. Manche Helden der Kommune wurden unter nicht eben heldischen Masken und Verkleidungen entdeckt und gefangen genommen. So der Bürger Rossel als schneehaariger Greis, in welchen er sich mittels der Chemie verwandelt hatte. Andere hatten die Kleider ihrer Maitressen angethan und sich mit den Chignons derselben aufgeputzt. Uebrigens ist ja auch der Ex-Premier Louis Philipps, der Jesuit Guizot, am 24. Februar 1848 in Weiberkleidern davongeschlichen. Noth kennt keinen Unterschied zwischen Pantalon und Jupon.

Um 2 Uhr Nachmittags vom 28. Mai verkündigte eine Proklamation des Marschalls den Parisern: „Die Armee Frankreichs hat euch gerettet. Paris ist befreit, der Kampf zu Ende, die Ordnung wieder hergestellt.“ Draußen in Versailles trug Monsieur Thiers die traurige Siegesbotschaft in die Nationalversammlung mit den Worten: „Paris ist seinem wirklichen und wahrhaften Souverän zurückgegeben, das heißt Frankreich.“




Böhmische Glasindustrie.
Von A. B.


Nur wenige Gegenden bieten auf einer verhältnißmäßig kurzen Strecke so viele landschaftliche Reize und eine so interessante Gewerbthätigkeit, wie die Thäler der Neisse und Iser, die sich von Reichenberg in Böhmen östlich bis zur schlesischen Grenze hinziehen. Einer der bedeutendsten Zweige von Böhmens altberühmter Glasindustrie hat in jenen Thälern seinen Sitz und von hier aus werden unglaubliche Massen von Perlen, imitirten Edelsteinen in allerhand Fassungen, Milliarden von Glasknöpfen sowie Krystallglasartikel jeder Art nach allen Welttheilen gesandt, und man kann dreist behaupten, daß es kein Land der Erde giebt, welches nicht von hier aus wenigstens mit irgend einem dieser glänzenden und dabei doch so billigen Artikel versorgt wird.

Sonderbar erscheint es, daß bisher gerade jene Gegenden von den Touristen fast ganz vernachlässigt wurden. Wie viele Tausende eilen auf dem Schienenwege an Reichenberg vorüber gen Süden, dabei höchstens der stattlichen Jeschkengebirgskette einige flüchtige Blicke zuwerfend und die genannten romantischen Thäler unbeachtet „links liegen“ lassend, ohne zu ahnen, welcher Schatz für Auge und Wissen ihrer hier geharrt hätte.

Reichenberg, wo wir behufs unserer Wanderung die Eisenbahn verlassen, hat sich in neuerer Zeit zum Range einer der ersten Fabrikstädte Oesterreichs aufgeschwungen, eine Stufe, die jene Stadt schon im Mittelalter einmal behauptete, wo die Reichenberger Tuchweberei sich eines Weltrufes erfreute.

Abgesehen von ihrer industriellen Bedeutung setzt die Stadt Reichenberg ihren Stolz darein, die Vertreterin und Beschützerin deutscher Interessen gegenüber den czechischen Bestrebungen zu sein. Während nur wenige Stunden weiter nach Süden die Bevölkerung eine überwiegend czechische ist und dort, besonders in kleinen Dörfern, der Sprachunkundige oft in Verlegenheit kommt, ist in Reichenberg und Umgebung die deutsche Sprache die herrschende. Der lebhafte Verkehr mit den Bewohnern czechischer Ortschaften macht jedoch auch für die Deutschböhmen die Kenntniß der czechischen Sprache nothwendig, während umgekehrt die gebildeteren Classen czechischer Städte ihre Kinder gern schon in der Jugend die deutsche Sprache erlernen lassen. Um diesen Sprachunterricht zu erleichtern, ist man auf ein sehr praktisches Auskunftsmittel verfallen. Deutsche Familien schicken nämlich eines oder mehrere ihrer Kinder zu Familien in böhmischen Städten wie Gitschin, Semil, Pardubitz etc. und nehmen dagegen eine gleiche Anzahl Kinder jener böhmischen Familien während dieser Zeit zu sich in das Haus, so lange, bis die erforderliche Sprachfertigkeit auf beiden Seiten erlangt ist. Anerbietungen und Gesuche in Betreff dieses sogenannten „Kindertausches“ kann man fast täglich in der „Reichenberger Zeitung“ finden.

Von Reichenberg führt, man kann wohl sagen: unbegreiflicher Weise, bis jetzt noch keine Eisenbahn durch die oben erwähnten industriereichen Thäler, und wir sind genöthigt, wenn wir nicht eine Fußwanderung vorziehen, uns der Post- und Stellwagen zu bedienen, welche täglich fünf bis sechs Mal den Verkehr vermitteln. Für sein leibliches Wohl braucht der Reisende oder der Wanderer unterwegs nicht besorgt zu sein, denn Wirthshäuser giebt es überall mehr als genug. Auch des köstlichen, goldklaren Bieres ist nirgends und zu keiner Zeit Mangel, und mit besonderer Befriedigung werden die zahllosen Freunde eines vortrefflichen Trankes der an der Landstraße unweit Reichenberg gelegenen Maffersdorfer Brauerei einen wahrscheinlich nicht eben kurzen Besuch abstatten.

Unser Weg führt anfangs aufwärts im Thale der Neiße, welche trotz ihres kurzen Laufes schon eine ansehnliche Kraft erlangt hat. Aus allen Nebenthälern stürzen muntere Bäche, die ihre Gewässer mit denen der Neiße vereinigen. Die Industrie hat die mächtige Wasserkraft wohl zu benutzen verstanden, denn häufig begegnen wir großartigen Spinnereien und Tuchfabriken, deren weiße Gebäude freundlich aus der dunkelgrünen Umgebung der Nadelwälder hervortreten. Diese Großindustrie bleibt jedoch dem romantischen Thale nur so lange zugethan, wie die Fluthen der Neiße Kraft genug besitzen, um mit einem Male zwanzig- bis dreißigtausend Spindeln oder ganze lange Reihen Webstühle in Bewegung zu setzen. Weiter hinauf in den Thälern überlassen aber Spinner und Weber die schwächere Kraft der Bergwässer der kleinen Industrie, und wir werden später sehen, in welcher speculativen Weise die Glas- und Perlenschleifereien sich jedes noch so schmale Bächlein dienstbar zu machen verstehen.

Nach anderthalbstündiger Fahrt erreicht man Gablonz, eine mächtig aufblühende, überaus freundliche Stadt von siebentausend Einwohnern. Vor wenigen Jahrzehnten war Gablonz nur ein unansehnliches, ärmliches Dorf und jetzt bildet es den Hauptstapelplatz für die Producte der thalaufwärts sich ausbreitenden Glaskurzwaarenfabrikation.

Trotz der geringen Fruchtbarkeit des gebirgigen Bodens, der nicht für den zehnten Theil der Bevölkerung hinreichende Nahrungsmittel produciren könnte, kommen auf die noch nicht vier Quadratmeilen umfassenden Bezirke Gablonz und Tannwald etwa 50,000 Bewohner, worunter über 10,000 Glasarbeiter. Im Ganzen aber finden auf diesem verhältnißmäßig kleinen Gebiete ungefähr 30,000 Menschen ihren Lebensunterhalt durch die Glasindustrie und ihre Nebenzweige. Schon aus diesem Zahlenverhältniß ersieht man, daß hier Jung und Alt, Groß und Klein thätig mit eingreifen muß, um den oft karg genug bemessenen Lohn zu erringen.

Die Landstraße führt stundenlang durch Ortschaften, die sich bis hoch zu den Gipfeln der Berge hinaufziehen und deren Einwohner ebenfalls nach Tausenden zu zählen sind; nur wenig Häuser dürfte man auf dieser ganzen Strecke finden, wo nicht Glas gepreßt, geschliffen, gefaßt oder irgendwie verarbeitet würde.

Wie verschiedenartig alle diese Beschäftigungen sind, zeigt sich am übersichtlichsten aus einer uns zu Gebote stehenden statistischen Tabelle. Nach derselben kommen auf das erwähnte kleine Gebiet außer einer Anzahl großer Glashütten 67 Glascompositionshütten, 250 Druckhütten, 400 Schleifmühlen, ungerechnet die Tausende von Drehbänken, die mit den Füßen getrieben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_373.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)