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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

des Verunglückten auf dem Fuße folgen müsse, da der Commerzienrath seine Documentenschränke und seine Bücher in dem Thurme verwahrt gehabt habe, und von alledem nicht ein einziges versprengtes Papierblatt gefunden worden sei.

Aber mochten doch da drüben Unsummen in die Luft geflogen sein – stand sie, die alte Frau, nicht hier auf einem Grund und Boden, der nach vielen Tausenden geschätzt wurde? War nicht unter ihren Füßen, in dem festen Steingewölbe die Silberkammer? Standen nicht Pferde der edelsten Racen drüben in den Ställen? Und welcher unermeßliche Werth steckte in der Gemäldesammlung berühmter Meister! Das Alles genügte, um der Frau Präsidentin das schöne luxuriöse Leben einer reichen Frau bis an ihr Ende zu sichern, wenn die hochgeborene Dame den Beweis zu erbringen vermochte, daß das Blut des Seilersohnes auch in ihren Adern fließe.

Und auch von der, die über ihr, in Henriettens Wohnzimmer lag, von der Enkelin des Schloßmüllers war gesprochen worden – man wußte, daß ihr ganzes großes Vermögen in dem Thurme eingeschlossen war. Die Präsidentin, in ihrer nervösen Angst und Unruhe, hatte nur mit halbem Ohre hingehört – was ging sie das Wuchergeld des ehemaligen Müllerknechtes an! Flora dagegen war bei ihrer merkwürdigen Sammlung und objectiven Ruhe, die sie angesichts des grauenhaften Ereignisses behauptete, den möglichen Eventualitäten gefolgt, welche die völlige Vernichtung der Documente für ihre Stiefschwester herbeiführen konnte.

Es hatte etwas Zornmüthiges, Verbissenes in Ihrem schönen, bleichen Römergesichte gelegen, als sie gegen zehn Uhr aus der Beletage herabgekommen war. Sie, der gefeierte Mittelpunkt der geselligen Kreise, das schöne Mädchen, dessen geistiges Uebergewicht, dessen scharfes Urtheil für alle Bekannten maßgebend war, sie hatte zu ihrer tiefsten Indignation die klägliche Rolle einer Ueberflüssigen droben in dem „sogenannten“ Krankenzimmer spielen müssen. Außer Henriette, die, auf einem Sopha campirend, um keinen Preis Käthe verlassen wollte, war auch die Tante Diakonus als Pflegerin erschienen. Sie hatte zugleich ein Asyl in der Villa suchen müssen, denn auf dem Hause am Flusse, das ja der Unglücksstätte am nächsten lag, waren die Schlöte eingestürzt; an der südlichen Hausmauer zeigten sich bedenkliche Risse und Sprünge; die Fenster lagen in Trümmern, und keine der Thüren paßte mehr in Schloß und Angel. … Die neueingezogene Dame war mit der Köchin in der Schloßmühle bei Suse einquartiert worden, und für die Nacht hatte der Doctor zwei Wächter an das verlassene Haus postirt.

Am Bette der Verletzten war kein Platz für Flora gewesen. Zu Häupten hatte die Tante, entsetzlich verweint, in einem Lehnstuhle gesessen, und ihr gegenüber der Doctor. „Die Alte“ hatte sich geberdet, als sei Käthes ungefährliche Stirnwunde, ihre anhaltende Betäubung, das Allerbeklagenswertheste, was der unheilvolle Tag überhaupt gebracht, und der Doctor war nicht von seinem Platze gewichen – er hatte Käthes Hand nur aus der seinen gelassen, wenn der Umschlag auf ihrer Stirn erneuert werden mußte. Ein solch’ besorgnißvolles Gebühren um „das robuste, lange Mädchen mit den Nerven und Gliedern der ehemaligen Holzhackerstochter“ widerspruchslos mit anzusehen, dazu hatte denn doch für Flora ein vollgerütteltes Maß Geduld und Selbstüberwindung gehört.

Des ewigen bangen Geflüsters müde und einsehend, daß sich heute mit all’ den consternirten Menschen kein vernünftiges Wort reden lasse, war die schöne Braut endlich hinabgestiegen, allein und tief ergrimmt – der Doctor hatte sie nicht einmal bis zur Zimmerthür, geschweige denn die Treppe hinabgeleitet. Zu Bette war sie selbstverständlich auch nicht gegangen; sie hatte die verunglückte Polterabendtoilette abgestreift, ihre schmiegsamen Glieder in den weißen Caschmirschlafrock von griechischem Zuschnitte gehüllt und sich gegen Morgen ein wenig auf das rothe Ruhebett hingestreckt.

Das ehemalige Studirzimmer ließ an Oede und Unwohnlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Der schwarze Schreibtisch stand, abgeräumt und verstaubt in seiner Fensterecke; von den Regalen waren sämmtliche Bücher genommen und lagen verpackt in großen Kisten inmitten des Zimmers. Die Säulenstücken sammt Büsten rollten umgestürzt auf der Erde; darüber her warf die qualmende, von unsicherer Dienerhand angezündete Hängelampe einen häßlich ungewissen Schein, und nun, als die Morgenluft kräftig durch die Fensterscherben zog und der Tag mit seinem energischen Lichte hereinbrach, schaukelte sie leise droben an ihrer Kette in bläßlichem Roth, als glimme der Ruinenbrand in ihrer weißen Schale nach.

Jetzt, mit Tagesanbruch, hatte Flora, hinaufgeschickt und den Doctor zu sich bitten lassen – sie hörte ihn sicheren, militärisch festen Schrittes durch den Corridor kommen. Mit eiligen Händen die derangirten Stirnlöckchen unter den Spitzen des Morgenhäubchens noch einmal zurecht zupfend, drückte, sie das weiße Marmorgesicht tiefer in die rothen Polster und sah blinzelnd nach der Thür, durch die er eintreten mußte.

Er schritt über die Schwelle. Sie hatte ihn noch nie so gesehen, und deshalb erhob sie sich, unwillkürlich, mechanisch, als trete ein fremder Mann herein.

„Ich fühle mich unwohl, Leo,“ sagte sie unsicher und ohne den Blick des Erstaunens von dem Gesichte wegzuwenden, das, bleich und überwacht, und dennoch wie von einem innerem Lichte belebt und durchleuchtet, plötzlich einen so völlig veränderten Charakter angenommen hatte. „Mein Kopf brennt – der Schrecken und durchnäßte Füße haben mir jedenfalls ein Fieber zugezogen.“ Sie setzte das stockend hinzu, während seine Augen kalt prüfend, mit der beobachtenden Ruhe des Arztes über ihre Züge hinstreiften. Dieser eine Blick machte ihr das Blut sieden.

„Nimm Dich in Acht, Bruck!“ sagte sie mit völlig beherrschter Stimme, aber ihr Busen wogte unter gepreßten Athemzügen und die schöngeschwungenen Brauen hoben sich, so daß zwei strenge, tiefe Queerfalten die weiße Stirn durchschnitten. „Ich ertrage es nun schon monatelang geduldig, daß Deine Praxis die Geliebte ist, der ich mich unterordnen muß.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich sehe ein, daß das mein Schicksal bleiben wird, und denke groß genug, um mich darüber hinwegzusetzen; denn diese Hingabe an seinen Beruf macht den Mann bedeutend, dessen Namen ich tragen werde.“ Bei diesen Worten wandte sie den hochgehobenen Kopf weg, als überfliege ihr geistiger Blick die weite Welt, die sein berühmter Name erfüllte. So entging ihr die jäh emporlodernde Flammengluth auf seinen Wangen: „Aber ich protestire entschieden gegen jede Zurücksetzung, sobald ich selbst Deinen ärztlichen Rath brauche,“ fuhr sie fort. „Wir Alle haben unter der furchtbaren Katastrophe zu leiden gehabt – ich armes Opfer mußte bei allem Schrecken auch noch die halb wahnwitzige Großmama und Henriette in ihrem trostlosen Zustande unter die Flügel nehmen – eine nicht zu beschreibende Aufgabe. Und doch ist es Dir bis zu dieser Stunde nicht eingefallen, auch nur einmal zu fragen: ‚Wie trägst denn Du das Unglück?‘“

„Ich habe nicht gefragt, weil ich weiß, daß bei Dir dergleichen seelische Eindrücke durch den Verstand controllirt werden, und weil ich auf dem ersten Blick hin sehe, wie wenig Dein körperliches Befinden in Wahrheit beeinträchtigt ist.“

Sie horchte befremdet auf den Ton seiner Stimme – er sollte gelassen, wie immer, klingen, und doch bebte er hörbar, wie in Folge ungestümer Herzschläge.

„Was Deine zweite Behauptung betrifft, so irrst Du,“ sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen; „ich habe in der That nervöses Klopfen in den Schläfen; bezüglich der ersten aber magst Du Recht haben. Ich suche mich jedem Ereignisse gegenüber – gleichviel welchem – stets so rasch wie möglich zu sammeln, um es mit klarem Blicke übersehen zu können. Du scheinst diese meine Taktik zu mißbilligen, wie ich aus Deinem seltsamen Tone entnehme, und doch hast Du gerade heute alle Ursache, sie zu preisen. Ich habe mich nie überreden lassen, mit meinen vom Papa geerbten soliden Obligationen zu speculiren – hätte ich mithin nicht auch bei überschwenglichen Glücksfällen den Kopf oben behalten, dann stünde ich heute hier vor Dir mit leeren Händen – meine Mitgift wäre verpufft, wie das unermeßliche Papiervermögen, das gestern in alle Lüfte geflogen ist. Ja, sieh mich nur scheu an, Bruck!“ sie dämpfte ihre Stimme. „Ich lasse mich nicht düpiren und nenne die Dinge beim Namen. Die Großmama rennt drüben auf und ab und ringt die Hände, daß ‚der kolossale Besitz‘ Fremden zufalle; unsere lieben Gäste haben die halbe Nacht hindurch den reichen Mann beklagt und beweint, der ein Schooßkind des Glückes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_346.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)