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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

und fiel grauenhaft unbeweglich über die Außenseite des Thurmrestes, wie wenn das Blut unmerklich rinnend einer breiten Wunde entströmt.

Und die Menschen raunten sich von aufgehäuften Gold- und Silberschätzen zu – oder nein, es waren ja Papiere gewesen, Papiere, die den Besitz von Fabriken, Grubenwerken, Landstrecken und dergleichen in unermeßlichem Werthe verbürgten und welche der alte, feste Thurm mit seinen Mauern, seinen unbesieglichen Schlössern und seinem Wassergürtel wie ein Drache gehütet hatte. Wo waren sie? Wo die Eisenplatten, die sie umschlossen? Waren die Geldspinde unzersprengt hinabgestürzt in das Kellergewölbe, inmitten der Flammengluth eine Auferstehung ertrotzend?

Und was war aus ihm geworden, aus dem reichen Manne, von welchem Anton bestimmt wissen wollte, daß er sich vor einer Stunde nach dem Thurm begeben habe, um Weine aus dem Keller zu holen? Alles starrte mit stockendem Athem in das Flammengewoge, während der treue Diener händeringend den Graben umkreiste und den Namen seines Herrn immer wieder über das Wasser hinüberrief. Es war doch eine unverzeihliche Marotte gewesen, Schießpulver da aufzubewahren, wo man mit dem offenen Kellerlicht hantirte.

„Die verkommene historische Merkwürdigkeit hat das nicht gethan; dazu ist ein ganz anderer Sprengstoff nöthig gewesen,“ sagte einer der zuerst herbeigeeilten Spaziergänger, ein Ingenieur, laut und sehr bestimmt in das Stimmengewirr hinein.

„Aber wie wäre denn der in den Keller gekommen?“ stammelte Anton stehenbleibend, indem er den Sprecher blöde und verständnißlos mit seinen angstverschwollenen Augen ansah.

Der Herr zuckte schweigend, mit einer zweideutigen Miene die Achseln und wich mit den Anderen zurück – die Spritzen begannen ihre Arbeit.

Und nun zischten die Wasserstrahlen empor, und die Glocke auf dem Stadtthurm läutete unermüdlich, so lange sich das Feuer ungeberdig gegen seinen Erzfeind aufbäumte; von der Villa her schleppte die Feuerwehr Bretter und Stangen, um eine improvisirte Brücke über den Graben zu schlagen, und der Lärm und das Menschengetümmel wuchs und schwoll von Secunde zu Secunde. Da scholl mitten in das Getöse hinein ein markdurchschütternder Schrei – dort drüben, der Ruine ziemlich nahe, auf dem Wege vom oberen Wehre her, hatten sie den Müller Franz gefunden; ein schwerer Stein hatte ihn zu Boden gerissen und ihm die Brust zerquetscht – der Mann war todt.

Es war, als pflanze sich der Schrei, den die Frau des Müllers im Hinstürzen über den Entseelten ausgestoßen, von Kehle zu Kehle fort – ein solch unbeschreiblicher Stimmenaufruhr wogte über den Park hin.

„Moritz – sie haben ihn gewiß gefunden!“ murmelte die Präsidentin aufschreckend. Sie war unweit des Hauses auf einer Gartenbank zusammengesunken; weiter hatten sie ihre Füße nicht getragen. Jetzt machte sie abermals eine krampfhafte Anstrengung, sich zu erheben – vergebens! Die bisher so standhaft ignorirte Altersschwäche machte sich angesichts einer wirklichen Gemüthserschütterung in bestürzender Weise geltend. „Haben sie ihn? Ist er todt? Todt?“ lallte sie, und die sonst so fest, so vornehm- und kühlblickenden Augen irrten, weit aufgerissen, in wilder Angst den Weg entlang, der in der Richtung der Ruine den Rasenplatz durchschnitt; dabei umklammerte sie Flora’s Arm, die neben ihr stand.

Die schöne Braut war die einzige, die ihre Fassung behauptete. Welch ein Contrast! Dort über den Bäumen zog schwelend und träge der dicke Qualm und färbte weithin den Himmel mit einem schmutzigen Schiefergrau, und hier, vor dem Hause mit seinen zertrümmerten Spiegelscheiben, seinen umgestürzten Orangeriekübeln unterhalb des Balkons, verliefen und versickerten nur langsam die angeschwemmten Wasser und sammelten sich zu rinnenden Bächen in den tiefen Furchen, welche die Räder der Feuerspritzen in die Kies- und Rasenfläche gerissen – dazu das wahnwitzige Geschrei, das durch die Lüfte gellte, das geräuschvolle Vorüberstürzen immer neuer Menschenmassen von der Stadt her, und inmitten dieser Verwüstung, dieses Tumultes eine schneeweiße Braut, weiße Maßliebchen an der Brust und in den blonden Locken, bleich bis in die Lippen, aber zuversichtlich und überlegen in der äußeren Haltung wie immer – eine gegen jedes persönliche Unglück Gefeite.

„Wenn Du meinen Arm nur einmal loslassen wolltest, Großmama!“ sagte sie ungeduldig. „Ich könnte Dich möglicherweise überführen, daß Du Gespenster siehst. Weshalb soll und muß denn Moritz durchaus verunglückt sein? Bah – Moritz mit seinem fabelhaften Glück! Ich bin überzeugt, er ist heil und ganz drüben mitten im Getümmel, und unsere kopflose Dienerschaft, die es, nebenbei gesagt, nicht der Mühe werth hält, nach uns zu sehen, und nur dann und wann im Vorüberrennen albernes Gewäsch in den Himmel hineinschreit, diese bornirten Menschen, sage ich, sehen ihre Herrn mit offenen Augen nicht.“ – Ihr Blick streifte das nasse Terrain, dann sah sie auf ihren Fuß, der sich im weißen Stiefelchen unter den Garnirungen des Tarlatankleides vorschob. „Man wird denken, ich sei auch ein wenig verrückt geworden,“ meinte sie achselzuckend, „aber ich muß hinüber –“

„Nein, nein, Du bleibst,“ rief die Präsidentin und grub ihre Finger in die Falten des weißen Kleides. „Du wirst mich nicht allein lassen mit Henriette, die noch hülfloser ist als ich und mir nicht beistehen kann. O mein Gott, ich sterbe. Wenn er todt wäre, wenn – was dann?“ Ihr Kopf fiel tief auf die Brust, die in Brillanten flimmerte – wie entsetzlich alt sah die Frau aus! Ihre gelbe Moiréschleppe umbauschte wie in grellem Hohn die gebeugte Greisengestalt.

Henriette kauerte auf der anderen Seite der Bank, aschfarben vor Erregung, und mit entsetzten Kinderaugen in das Weite starrend. „Käthe! Wo nur Käthe bleibt?“ sagte sie mit bebenden Lippen wieder vor sich hin, als sei ihr der Satz eingelernt worden.

„Gott im Himmel, schenke mir Geduld!“ murmelte Flora zwischen den Zähnen. „Es ist doch etwas Schreckliches um solche schwächliche Frauenzimmer. … Ich bitte Dich, Henriette, warum schreist Du denn immer nach Deiner Käthe? Die wird Dir doch Niemand nehmen!“

Mit verzehrender Ungeduld überflog ihr Blick das Haus, aber da war kein lebendes Wesen zu sehen, das sie von dem ihr aufgezwungenen Beschützerposten hätte erlösen können – sie waren Alle nach der Ruine gerannt, die bereits angekommenen Gäste aus der Umgegend, die Lakaien, die dienstbaren Geister der Küche; selbst die feinbeschuhten Kammerjungfern waren durch die tiefen Wasserlachen mitgelaufen. Aber von der Stadt her nahte jetzt Beistand – die darstellenden Damen des Festspieles kamen athemlos um die Hausecke.

„Um Gotteswillen, was geht bei Euch vor?“ rief Fräulein von Giese und stürzte auf die verlassene Frauengruppe zu.

Flora zog die Schultern empor. „Im Thurm hat eine Explosion stattgefunden – mehr wissen wir auch nicht. Alles rennt vorüber. Niemand steht uns Rede, und ich kann nicht von der Stelle, weil die Großmama den Kopf verloren hat, und mir in ihrer bodenlosen Angst buchstäblich die Kleider vom Leibe reißt. Sie bildet sich ein, Moritz sei umgekommen.“

Die jungen Mädchen standen wie zu Stein erstarrt vor dieser gräßlichen Vermuthung – der blühend schöne Mann, der vor wenigen Stunden noch „dem herrlichen Leben“ ein Hoch gebracht, dort in den Flammen umgekommen oder in Atome zerstückelt! Das war nicht auszudenken. „Unmöglich!“ stieß Fräulein von Giese heraus.

„Unmöglich?“ wiederholte die Präsidentin unter einem Gemisch von Schluchzen und wahnwitzigem Auflachen; jetzt stand sie wie emporgerissen auf ihren Füßen, aber sie schwankte wie eine Betrunkene und deutete mit einer unsicheren Armbewegung nach dem nächsten Bosquet. „Da – da bringen sie ihn! Gerechter Gott! Moritz, Moritz!“

Dort wurde unter feierlichem Schweigen ein Gegenstand hergetragen, und in dem Kreise neugierig mitlaufender Menschen schritt Doctor Bruck; er war ohne Hut, und seine hohe Gestalt überragte Alle.

Flora flog hinüber, während die Präsidentin in ein lautes krampfhaftes Weinen ausbrach. Beim Anblick der herbeieilenden, gebieterisch schönen Braut trat die Begleitung unwillkürlich aus einander; nach einem raschen Blicke über die hingestreckte Gestalt, die man auf einem Ruhebette trug, wandte sich Flora sofort zurück und rief beschwichtigend: „Beruhige Dich doch nur, Großmama! Es ist ja nicht Moritz –“

„Käthe ist’s – ich wußte es,“ murmelte Henriette halb

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_344.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)