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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 16.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Flora lachte zornig auf. „Das hat Unsereins davon, wenn es sich solch ein Jüngstes nicht mindestens zehn Schritte vom Leibe hält. Das ist so die echte Backfischmanier, wichtig und vertraulich zu thun, als ob man um Gott weiß was Alles wüßte, und täppisch und tactlos immer wieder eine unangenehm klingende Saite im Menschenherzen zu berühren, die man gern vergessen möchte. Habe ich nicht schon drinnen erklärt, daß der gestrige Auftritt im Walde mein ganzes Blut- und Nervenleben so wahnsinnig aufgestürmt hatte, daß ich für Alles, was nachher geschehen ist, nicht verantwortlich gemacht werden dürfe? Meine sehr liebe Käthe, Du willst mir in Deiner unerschöpflichen Weisheit sagen, daß sich an meinen Verlobungsring überhaupt kein Omen mehr knüpfen könne, weil – nun, weil er da drüben im Flusse liege, gelt, Schatz?“ – Sie lachte abermals kurz auf. – „Wie, wenn ich nun bei aller Leidenschaftlichkeit und Sinnesverwirrung, bei allem Grolle über eine ungerechte, vorurtheilsvolle Kritik, die mir schonungslos in das Gesicht gesagt worden war, schließlich dennoch ein menschliches Rühren gespürt und mein süßes Kleinod nicht von mir geworfen hätte? Hast Du das Ringlein fallen hören, Kind? Unmöglich! Denn – hier sitzt es ja,“ sie drehte den Reifen spielend am Finger, „nachdem es vorhin wirklich Miene gemacht hat, mich freiwillig zu verlassen –“

„Weil es Dir zu weit ist. Du hast schlankere Finger als Deine verstorbene Mutter,“ fiel Käthe unerbittlich ein; sie bebte am ganzen Körper vor Entrüstung.

Flora aber fuhr mit einer Geberde empor, als wolle sie mit den Händen nach ihr stoßen. „Natter Du!“ murmelte sie ergrimmt. „Ich habe auf den ersten Blick hin gewußt, daß Deine bäurisch plumpe Gestalt einen widerwärtigen Schatten auf meinen Lebensweg werfen würde. Wie kannst Du Dich unterstehen, mir nachzuspüren, meinem Thun und Lassen wie ein Spion nachzuschleichen? Du mir? Sind das die ehrenhaften Grundsätze, welche Dir die ‚vortreffliche‘ Lukas einzupauken vorgegeben hat?“

„Meine Lukas lasse aus dem Spiele!“ sagte Käthe, diesem maßlos leidenschaftlichen Ausbruche plötzlich eine kühle, imponirende Ruhe entgegensetzend. „Daß ich so denke und handle, das hat die Erziehung nicht verschuldet; ich weiß, diese ‚ehrenhaften Grundsätze‘ stecken mir von meinem braven Vater her im Blute; ich verabscheue die Komödie im Menschenverkehre und will eher zeitlebens verstummen, als daß ich eine Lüge gut heiße. Bist Du gewohnt, Deine Umgebung mit einem so kühnen Vorgehen zu verblüffen und dermaßen einzuschüchtern, daß sie zu Deinem falschen Spiele stillschweigt, so glückt Dir das bei mir nicht, so jung und so wenig weltgewandt ich auch noch sein mag. Ich lasse mich nicht verwirren – ich habe gesunde Augen und ein starkes Gedächtniß –“

„Ei, das sind allerdings robuste Naturgaben, vor denen ein anderes Menschenkind mit seinen fein nüancirten inneren Regungen und Antrieben freilich nicht aufkommen kann,“ rief Flora. Sie hatte, während Käthe sprach, einige Male Miene gemacht, ironisch lachend zu gehen und den „moralisirenden Backfisch“ stehen zu lassen; sie hatte die Hände geballt, sich auf die Lippen gebissen und erbarmungslos das spärliche Grün von den saftstrotzenden Zweigen eines Busches gezupft – aber gegangen war sie doch nicht, und jetzt sprach sie so überlegen und gefaßt, als habe sie nicht einen Augenblick das innere Gleichgewicht verloren. „Ob Du mich verstehen wirst, Kind?“ – sie zuckte die Achseln – „ich glaube es kaum. Du hältst Deinen langweiligen Maßstab der sogenannten Moral mit kindlicher Gläubigkeit fest und missest die Seelen daran, wie der Krämer die bestimmte Ellenzahl, gleichviel, ob das Zeug grob oder fein, grün oder roth ist, aber ich will mich bemühen, deutlich zu werden.“

Sie trat einen Schritt näher, sodaß die junge Schwester ihren balsamischen Athem wehen fühlte. „Nun ja, Du hast Recht,“ sagte sie gedämpft, und ließ einen raschen Seitenblick über die Fensterreihe des Hauses hinfliegen, „mein Verlobungsring liegt dort im Flusse. Ich habe ihn von mir geworfen in einem Anfalle höchster Verzweiflung, mit dem Gefühle unaussprechlichen Ekels vor dem Leben der Armseligkeit an Bruck’s Seite. Mädchen Deines Schlages werden das freilich nicht begreifen. Ihr wählt Euch den Mann, je nachdem er sein Auskommen, eine einnehmende Gestalt und – einen hübschen Bart hat, und ist das ‚Ja‘ einmal gesprochen, dann geht Ihr mit ihm durch Dick und Dünn, und das ist ja auch ganz brav; solche Mädchen werden rechtschaffene Mütter wohlerzogener Söhne; sie hocken im heimischen Neste und schließen furchtsam und demüthig die Augen, wenn ein Adler vor ihnen in die schwindelnde Höhe steigt. Zu einem solchen Adler aber geselle ich mich; da, wohin er sich versteigt, weht meine Lebensluft; ich halte mich an seiner Seite; ich jauchze ihm zu und ermuthige ihn in seinem stolzen Fluge –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_259.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)