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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

bedarf es wohl keiner allzu lebhaften Phantasie. All der Jammer und das Elend, welche derartige Katastrophen zu begleiten pflegen, blieb auch hier nicht aus. Von dunkler Nacht umhüllt, auf der vorderen Seite eingeengt von dem wilden Strome, der die Rheinstraße überfluthet, auf der andern Seite die jeden Moment neues, größeres Unglück drohenden Berghänge, vor sich den Trümmerhaufen, unter dem viele Menschen begraben und aus dem schwache Hülferufe hervordrangen, konnten wir uns kaum in einer grauenhafteren Situation befinden. Doch man säumte keinen Augenblick. Nicht achtend der durch das ungewisse Dunkel der Nacht noch vergrößerten drohendsten Lebensgefahr, ging man unter Leitung des Bürgermeisters unverzüglich mit muthiger Hand an’s Werk. In der nächsten Secunde schon konnte ein neuer Sturz die Tapferen ebenfalls verschütten. Lobend muß anerkannt werden, daß hier die Menschenliebe in wahrhaft edler, heldenmüthiger Weise sich bethätigte; das eigene Leben einsetzend, war man nur von dem Gedanken an die Rettung Anderer beseelt.

Der flackernde düsterrothe Schein aufgestellter Petroleumfackeln beleuchtete bald in unheimlicher Weise die Unglücksstätte, ließ aber die Zerstörung nur in unbestimmten Umrissen erkennen. Von Häusern keine Spur; in gewaltiger Höhe ragte ein Schutthaufe empor, aus dessen unterem Theile vereinzelte Balken und Sparren hervor sahen. Eiskalt überlief es Jeden bei dem Gedanken an die unglücklichen Verschütteten. Was war aus ihnen geworden? Hatte ein schneller, leichter Tod sie weiteren Qualen entrissen, oder wartete ihrer das Schicksal einen langsamen Erstickungstod zu sterben? Hab und Gut war indeß noch einer möglichen Zerstörung durch einen neuen Sturz preisgegeben, und die Bewohner der zunächst bedrohten Häuser begannen das Nothwendigste und Werthvollste zu sichern. Auch wir – aber kaum hatten wir das Haus betreten, als uns der Mahnruf „Heraus“ zur schleunigsten Flucht gemahnte und die auf der Straße befindliche Menge eiligst aus einander stob. Trotz der so augenscheinlichen Lebensgefahr betrieb die Bürgerschaft das begonnene Rettungswerk mit größtem Eifer und denkbarster Energie, und ihrer angestrengtesten Thätigkeit gelang es, drei der Verschütteten, die, im dritten Stocke wohnend, sammt dem Stockwerke über die Straße hinausgeschoben und hinabgesunken waren, unter den Trümmern hervorzuziehen, schon halb verschmachtet und fast erstickt.

Von der Katastrophe, die so plötzlich hereingebrochen, daß eine Rettung für die Unvorbereiteten schlechterdings unmöglich war, in den Betten überrascht, hatten sie ihr Leben nur einer zufällig günstigen Lage der über sie gestürzten Gegenstände zu verdanken. Nur eine der drei Geretteten hatte bedeutende gefährliche Quetschungen davongetragen. Einige der Bewohner der verschütteten Häuser waren bei Eintritt der Katastrophe dem Verderben nur durch schleunige Flucht entronnen. Durch den Ruf der noch wachen Mutter gewarnt, rettete sich ein junges Ehepaar nur durch einen schnellen Sprung aus dem zweiten Stocke; eine Dienstmagd war ebenfalls so glücklich; eine andere Magd, in demselben Hause schlafend, verfehlte das rechte Fenster und wurde sofort verschüttet. Anderen war es gleichwohl mißlungen, zu entkommen. Eine Frau nebst ihrem Sohne hatte der Tod ereilt, als sie sich mit ihm durch’s offene Fenster retten wollte; über die Fensterbrüstung gebeugt, fand man die Frau von dem Sohne umfaßt, ein wahrhaft herzerschütternder Anblick. Langsam, zu langsam schlich die Nacht hin. Gegen Morgen, der, heiß und sehnlichst erwartet, endlich erschien, hatte man bereits fünf Leichen, schrecklich verstümmelt, herausgefördert.

Durch die ungewöhnliche Aufregung abgespannt und ermattet, suchte ich ein wenig Ruhe. In Halbschlummer verfallen, fuhr ich bei jedem leisesten Geräusch in die Höhe; noch lag das entsetzliche Getöse, noch das klägliche Hülfegeschrei in meinem Ohre. Der Morgen ließ das Unglück in seiner ganzen Ausdehnung übersehen. Neun Häuser, davon sechs Vorderhäuser der Hochstraße und drei Hinterhäuser der Rheinstraße, waren größtentheils mit den Bewohnern verschüttet. Die haushohe Schuttmasse, welche Alles bedeckte, ließ kaum ahnen, daß hier Häuser gestanden, wenn nicht die vereinzelt hervorragenden Trümmer solches verrathen hätten. Eine rege Thätigkeit herrschte auf der Stätte. Von den benachbarten Oertern Lorch und St. Goarshausen war die Feuerwehr herbeigeeilt. Gegen halb neun Uhr traf dann das in der Nacht durch eine telegraphische Depesche (welche, da hier zur Nachtzeit keine Depeschenbeförderung statt hat, erst durch eine Staffette über den brausenden Strom nach Bacharach gesandt werden mußte) beorderte Pionierdetachement von Coblenz ein, das sich sofort rüstig an die Arbeit machte. Der nächste Schnellzug führte die Herren Regierungspräsident von W., Regierungs- und Baurath C. und Bergrath G. von Wiesbaden, Landrath F. von Rüdesheim und Andere nach hier, um Einsicht von dem stattgehabten Ereignisse zu nehmen. In der Hoffnung, noch vielleicht Lebende herauszufördern, da man am Morgen noch deutliche Hülferufe gehört haben wollte, wurde unablässig weiter gearbeitet; man hatte nur den Erfolg, die Leiche einer Frau auszugraben, welche nach ärztlichen Gutachten noch mehrere Stunden nach der Katastrophe gelebt haben soll und somit einen schrecklichen, qualvollen Tod gefunden hat. Unerwarteter Weise aber wurden Sonnabend Nachmittag drei Uhr auf höheren Befehl die Arbeiten eingestellt, wie es hieß, veranlaßt durch die außerordentliche Lebensgefahr, in der die Arbeiter schwebten, was übrigens unter der Bürgerschaft, wie den anwesenden Fremden ernstliche Mißstimmung hervorrief.

Nachdem am Sonnabend Abend ein weiteres Pionierdetachement von Castel-Mainz eingetroffen, wurde die Arbeit mit vielen Kräften am Sonntag Vormittag wieder aufgenommen, indem dem commandirenden Officiere die Leitung übertragen wurde. Ernstes Glockengeläute rief dann am Sonntag Nachmittage die Bewohner in die Kirche, um dem feierlichen Acte der Einsegnung der sechs Leichen beizuwohnen; unter zahlreichster Betheiligung der Bevölkerung, wie der anwesenden Fremden, wurden dieselben zur Ruhe bestattet. Wohl war bei diesem Unglücke der Verlust an Hab und Gut nicht gering, ungleich größer und schmerzlicher aber der an Menschenleben. Achtundzwanzig Menschen waren im Ganzen verschüttet, wovon drei gerettet wurden, fünfundzwanzig also den Tod fanden, darunter mehrere Familien mit je vier Kindern. Die Leichen wurden nacheinander gefunden, die letzte am 23. März. Die ärztliche Leichenschau ergab, daß sämmtliche Verschüttete, mit Ausnahme von einem oder zweien, wohl einen schnellen Tod gefunden, was aus gefährlichen Quetschungen, Brüchen und anderen Verletzungen ersichtlich. Die Ansicht übrigens, daß die tödtlichen Verletzungen erst durch spätere Druckwirkungen entstanden, dürfte immerhin nicht ausgeschlossen sein. Merkwürdiger Weise wurden verschiedene Thiere, selbst noch einige Tage nach der Katastrophe, lebend zu Tage gefördert, so zwei Ziegen, von denen eine unversehrt, ein Canarienvogel in seinem bis auf eine kleinste Stelle zerdrückten Käfige, eine Kuh und eine Taube. In dem Wohnzimmer der einen Familie hingen am Morgen nach der Katastrophe Uhr und Bilder unversehrt an der Wand.

Der elektrische Draht hatte die Schreckenskunde schnell nach allen Richtungen hin verbreitet, und aus benachbarten, wie entfernten Orten strömten Schaaren von Fremden herbei; jeder Zug führte Hunderte nach der unglücklichen Stadt. Da nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil des Berghanges herabgestürzt, aber der größte mit den mächtigen Felsblöcken stehen geblieben war, so mußten die bedrohten Häuser geräumt werden. Hätte in der Nacht die ganze Masse sich auf einmal losgelöst, so wäre das Unglück ungleich gräßlicher, viele Häuser verschüttet, viele Menschenleben noch vernichtet worden. An einer anderen Stelle, nach dem sogenannten Blücher-Thale zu, hatte sich zur Zeit ebenfalls eine Bewegung des Berges gezeigt; auch hier mußten Häuser geräumt werden, sodaß für zweihundertvierundachtzig Personen mit all ihrer Habe anderweitige Unterkunft zu beschaffen war. Alle irgend vorhandenen Räumlichkeiten sind völlig in Anspruch genommen; trotzdem müssen die Mitglieder von mehr als einer Familie getrennt wohnen. Die gegenwärtige Lage mag man danach bemessen.

Traurig ist der Anblick der Unglücksstätte, und nicht ohne unheimliches Grauen passirt man in später Abendstunde die leeren Häuser. Nur um ein Geringes hat sich die gewaltige Schuttmasse vermindert, und noch lange wird man an der Wegräumung zu arbeiten haben. Die Berghänge, früher mit Weinreben bepflanzt, bilden jetzt ein verwüstetes Terrain.

Es dürfte vielleicht für den einen oder andern der geneigten Leser von Interesse sein, einiges Nähere über den Bergsturz zu erfahren, und wir schließen nachstehend die betreffenden Mittheilungen darüber an. Bereits vor einigen Jahren hatte man eine Bewegung der Gebirgsmasse wahrgenommen. Diese im Laufe der Zeit wiederholt eintretende Erscheinung, durch große

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_253.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)