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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Die schöne Braut sah sich ungewiß und rathlos um; die Zimmereintheilung der „Spelunke“ war ihr ja völlig fremd, aber es war, als ob der Strahl dieser suchenden Augen den Doctor magnetisch berührt und angezogen hätte. Er trat in diesem Augenblicke aus dem Zimmer der Tante.

Flora flog auf ihn zu und breitete die Arme aus. Das lange, schwarze Kleid schleppte über den Boden hin, und die dunklen Schleierfalten wogten ihr nach, wie gelöste, offen niederfließende Haarsträhne. Mit den bleichen Händen, die sich kinderklein und schmal aus dem zurückfallenden schwarzen Spitzengekräusel streckten, mit dem mattweißen Gesicht erschien sie wie eine jener gespenstischen, schönen Frauen, die der Volksglaube aus den Gräbern steigen und mordend über junges Leben herstürzen läßt.

„Leo!“ vibrirte es wie ein Hauch, und doch klingend durch den Flur.

Käthe horchte mit stockendem Athem hoch auf – es ging ihr durch Mark und Bein. War das wirklich Flora’s Stimme? Kam dieser köstliche, innige Klang voll weicher Abbitte, voll bebender Sehnsucht wirklich von den Lippen, die so schnöde verurtheilende Worte sprechen, die so schneidend verächtlich lächeln konnten? Das junge Mädchen wandte die Augen weg und sah vor sich nieder; das Messer zitterte in ihrer Hand. Sie hätte so gern die Thür ganz geschlossen, um nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden, aber sie fand, wunderlich genug, weder Muth noch Kraft, sich von der Stelle zu bewegen. Draußen erfolgte keine Antwort, aber auch kein Schritt wurde hörbar.

„Leo, sieh mich an!“ sagte Flora lauter, halb flehend, halb gebieterisch. „Wozu die Marter, die Deinem eigenen Herzen widerstrebt? Ich weiß es, Du kämpfst mannhaft, aber unter Schmerzen Dein heiligstes Gefühl nieder, um hart zu erscheinen, um mich zu strafen. Und wofür? Weil ich gestern halb wahnwitzig war vor Aufregung und nicht wußte, was ich that und sagte. Leo, mein Leben, das Dir gehört, war in Gefahr gewesen, noch kochte das Blut in mir, und – da reiztest Du mich auch noch.“

Käthe sah unwillkürlich empor. Neben ihr stand die Magd mit einem breiten Grinsen auf dem guten, dicken Gesichte; es war jedenfalls sehr ergötzlich, daß die Dame da draußen ihrem jungen Herrn etwas abbitten mußte. Dieser Anblick brachte augenblicklich Leben in das junge Mädchen; sie ordnete rasch die Kuchenstücke auf dem Teller, nahm ihn in die Hand und trat entschlossen in den Flur. Sie sah noch, wie der Doctor mit fest verschränkten Armen, das Gesicht von der Bittenden weggewendet, regungslos durch die offene Hausthür in die Gegend hinaus starrte; wie fahl erschienen seine braunen Wangen und wie fest und erbittert biß er die Zähne zusammen, während Flora’s unheimlich düstere Gestalt an seinem Halse hing, so weich und geschmeidig und innig fest sich anschmiegend wie der Vampyr der Volkssage.

Bei dem ziemlich lauten Geräusch der aufgestoßenen Thür fuhr der Doctor empor, und in demselben Moment traf sein scheu irrender Blick Käthe’s Augen. Als sei er auf dem schlimmsten Verbrechen betroffen, so schrak er zusammen – Flora folgte erstaunt der Richtung seines Blickes, aber die schönen Mädchenhände, die sich in seinem Nacken fest verschlungen hatten, lösten sich darum nicht. „Ach, mein Gott, es ist ja nur Käthe, Leo!“ sagte sie und drückte den Kopf fester an seine Brust.

Käthe huschte wie auf der Flucht vorüber in das Krankenzimmer. Ihr Herz schlug fast laut vor Schrecken und schamvoller Bestürzung; sie hatte eine Liebesscene à la Romeo und Julie unterbrochen. Mit bebenden Händen stellte sie den Teller auf den Tisch, lockte auf Henriettens Verlangen, die ein Attentat ihrer Lieblinge auf Kuchen und Zucker befürchtete, die umherschwirrenden Kanarienvögel in die kleine Volière und schloß hinter ihnen das Thürchen.

Da sah sie im Käfige auf dem sauberen, weißen Sande den gesuchten Goldreifen liegen; er war seltsamer Weise durch die Messingstäbe geflogen, ohne das geringste Klirren zu verursachen, und ebenso unhörbar auf der weichen Sandschicht niedergefallen. Käthe nahm ihn heraus und ließ ihn in die Tasche gleiten – und nun hätte sie wieder hinausgehen und den Kaffee fertig machen sollen, aber sie schüttelte sich fast vor Angst und Abneigung. Es war ihr, als solle sie in den Tod, in die Hölle gestoßen werden. Sie entfernte sich nicht um einen Schritt vom Tische und machte sich unnöthig mit den Kanarienvögeln zu schaffen, während die Präsidentin mit ihrer angenehmen, sanft gedämpften Stimme von Flora’s „Trousseau“ sprach und der Tante Diakonus an den Fingern herzählte, was nun infolge der Ortsveränderung noch nachbestellt werden müsse; die alte Frau durfte keinen Augenblick in Zweifel bleiben, daß ihr berühmter Neffe in der schönen Banquiertochter eine Art Prinzessin heimführe.

Käthe wurde rascher aus ihrer Pein erlöst, als sie dachte. Der Doctor trat schon nach wenigen Minuten in das Zimmer, und nun schlüpfte sie, ohne aufzusehen, an ihm vorüber. Der Flur war leer. Flora mußte in den Garten gegangen sein. In der Küche knarrte die Kaffeemühle; vielleicht hatte das mißtönende Geräusch, und nicht, wie sie vermuthet, ihr Erscheinen, die Versöhnungsscene so schnell zu Ende geführt.

Das Küchengeschäft war bald beseitigt, und während die Magd eine frische Schürze vorband, um das Kaffeebret hineinzutragen, trat Käthe in das Fenster und betrachtete den Ring, den sie unter Herzklopfen aus der Tasche gezogen. … „E. M. 1843“ stand auf der Innenseite – Ernst Mangold – es war also der Trauring von Flora’s Mutter, den sie in der Hand hielt.

Sie stand wie gelähmt vor dem Uebermaß von Frivolität, mit welchem Flora sich zu helfen und jedes Bedenken zu überwinden gewußt hatte. Das war eine jener Frauennaturen, die sich stets der augenblicklichen Situation zu bemächtigen verstehen, die bei jedem Umschwung elastisch wieder auf die Füße zu stehen kommen und mit einem kecken Ignoriren des unliebsamen Geschehenen, mit der Zuversicht des Uebermuthes die Fäden der Intrigue leise und glücklich auch an dem veränderten Terrain wieder anheften. Und das war die Schwester, vor deren weit überwiegenden Geistes- und Charaktereigenschaften ihr junges Herz demüthig gebangt hatte.

Das kleine unscheinbare Symbol der Gattentreue, das Flora’s sanfte Mutter bis an den Tod getragen, war entweiht durch das Gaukelspiel der Tochter. Es brannte Käthe zwischen den Fingerspitzen; sie hätte es am liebsten so weit von sich schleudern mögen, daß es keine Menschenhand wieder aufzufinden vermocht hätte, aber es war und blieb das ererbte Eigenthum der Schwester und mußte zurückgegeben werden.

Sie verließ sofort die Küche und trat hinaus auf die Thürstufen. Dort stand Flora am Staket und sah hinaus in das Weite. Sie wandte dem Hause den Rücken zu und hatte die Arme unter dem Busen gekreuzt, und durch die Maschen des Spitzenschleiers entlockte die Sonne dem blonden Haar ein goldenes Flimmern. Der Hofhund bellte unaufhörlich und erbost die stumme, fremde Gestalt an, und die Hühner umschritten scheu die leise rauschende Damenschleppe, die sich so lang und düster über den Rasen hinbreitete.

Das Hundegebell übertönte Käthe’s Tritte, Flora bemerkte ihr Kommen nicht eher, als bis die Schwester dicht neben ihr stand. Sie fuhr herum; ihr zarter Teint war betupft mit rothen Spuren der Aufregung; sie war offenbar in der ärgerlichsten Stimmung, und nun falteten sich die Brauen noch finsterer, und ihre Augen sprühten in ausbrechendem Zorne.

„Bist Du schon wieder da, wie ein unvermeidlicher Deus ex machina? Ungeschicktes Ding, vorhin so hereinzupoltern!“ fuhr sie Käthe in einem Tone an, als stehe nicht die stolze Erscheinung einer erwachsenen jungen Dame, sondern ein ungezogenes, boshaftes Schwesterlein vor ihr, das zeitweilig noch mit der Ruthe Bekanntschaft machen müsse.

Eine gerechte Erbitterung quoll fast unbezwingbar in Käthe empor – so fromm war ihr Naturell nicht, und so sanftmüthig floß ihr frisches Jugendblut auch nicht in den Adern, daß sie einer ungezogenen Begegnung auch noch die andere Wange hingehalten hätte, aber sie beherrschte sich. „Ich bringe den Ring,“ sagte sie kurz und kalt.

„Gieb her!“ Flora’s Züge glätteten sich; sie nahm hastig den kleinen Reifen von der hingehaltenen Handfläche und steckte ihn an den Finger. „Ich bin sehr froh, daß er wieder da ist, der Ausreißer. Es ist ein so fatales Anzeichen –“

„Du willst in dem Falle doch nicht von einem bösen Omen sprechen?“ Dem jungen Mädchen versagte fast die Stimme, angesichts dieser bodenlosen Dreistigkeit.

„Ei warum denn nicht? – Glaubst Du denn, Leute von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_246.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)