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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

sein goldenes Regierungs-Jubiläum, am 7. November desselben Jahres Goethe seinen goldenen Jubeltag begangen. Der Aufenthalt des jungen Engländers in Weimar fällt in die letzten Lebens- und Regierungsjahre des Herzogs; am 14. Juni 1828 (ungefähr ein Jahr nach Swift’s Abreise) schied Karl August, am 14. Februar 1830 seine Gemahlin Louise aus dem Leben. Damals, im Jahre 1826, wirkte Karl August noch in alter kerniger Rüstigkeit, umgeben von seinem Sohne, dem Erbprinzen Karl Friedrich, von dessen Gemahlin, der Großfürstin Marie Paulowna, zeitweilig auch von seinem zweiten Sohne, dem als Mensch und Militär gleich ausgezeichneten Herzoge Bernhard, welcher im Jahre 1826 von seiner Reise nach Nordamerika glücklich zurückkehrte, und von den heranblühenden Kindern des Erbgroßherzogs.

Im Goethe-Hause lebte der allverehrte Altmeister (dessen Gattin schon seit zehn Jahren im Grabe ruhte) zusammen mit der Familie seines Sohnes, des Geheimen Kammerraths August von Goethe, bestehend aus dessen Gemahlin Ottilie geborenen von Pogwisch und den beiden Enkeln, dem achtjährigen Walther und dem sechsjährigen Wolfgang. Die Enkelin Alma war noch nicht geboren. Ottilie war es, welche dort bei Tafel und in den Abendgesellschaften die Honneurs machte. In den großen Theegesellschaften in Goethe’s eigenen Zimmern pflegte der Dichter gewöhnlich auf kurze Zeit zu erscheinen.

In den Mansardenzimmern Ottiliens fand ein heiteres geselliges Zusammenleben von Ausländern, Schriftstellern und Damen seinen Mittelpunkt. Insbesondere verkehrten dort die jungen Engländer, welche, von Goethe’s und Weimars Ruhm angezogen, in der kleinen Stadt an der Ilm sich bald längere, bald kürzere Zeit aufhielten. Der Verkehr mit ihnen und die Uebung der englischen Sprache gewannen ein besonderes Interesse durch den genialen Aufschwung, welchen die englische Poesie gerade damals durch Lord Byron, wie später auch durch W. Scott nahm. Eine anschauliche Schilderung jener kleinen Gesellschaften im Goethe-Hause hat uns Amalie Winter (in „Weimars Album“) gegeben.

„Das Goethe’sche Haus,“ schreibt sie, „bot der muntern Jugend ein willkommenes Asyl, und in der von Goethe’s geistreicher, liebenswürdiger Schwiegertochter bewohnten Mansarde pflegte man sich oft zur Theestunde zusammen zu finden, um vergangene Lustpartien zu besprechen, neue zu verabreden. Hier lustwandelten bald die Gedanken eines jugendlichen Paares am Ganges auf und nieder; nur der junge Mann war persönlich in Indien gewesen, die Dame aber dort ebenso zu Hause wie in den weimarischen Landen. An einer anderen Stelle im Zimmer erglühten Zwei im Mitgefühl für das arme, blutende, leidende, mißhandelte Irland, und das sanfte Frauenherz hegte die kühnsten Rebellengefühle. Wieder in einer andern Ecke bemühte sich eine junge Dame, den Teufelsglauben der englischen Kirche zu bekämpfen oder zu mildern, während ein seit der Carbonarirevolution geächteter Italiener seine Sehnsucht nach dem Vaterlande gegen eine theilnehmende Seele aussprach. Wieder ein anderer Kreis schwärmte in Byron’s Poesien – und ganz im Hintergrunde stand ein ernstes Paar, und schöne Augen füllten sich mit Thränen bei dem Gedanken an den nahen Abschied. Dazu ertönte im Nebenzimmer ein Clavier, und ein eben angekommener Engländer wurde eingetanzt zum morgenden Ball oder eine Mazurka probirt. Die Vergnügungen wechselten beständig, da immer neue aufzutauchen pflegten, um die alten zu verdrängen. Was der nächste Tag bringen würde, wußte man nicht, ahnte es nicht; wie leicht konnte der frohe Kreis zerstieben! Aber man lebte nur für das Heute, für den Augenblick und lebte zufrieden.“

Soviel als Vorbemerkungen zu den nachstehenden Erinnerungen. Lassen wir jetzt dem alten Herrn das Wort! Wir geben die anspruchslosen Schilderungen ohne eingreifende Aenderungen in dem harmlos naiven Tone wieder, welchen unser englischer Goethe-Verehrer so liebenswürdig anzuschlagen verstanden hat.

Die Redaction.




Dieser Weimar ach!
Dieser Seufzer folgt dir nach!

Weimar, du vielgeliebtes, Sitz der Gelehrsamkeit, der Verfeinerungen, der Gastfreundschaft, der Schönheit der Vergnügungen, in dessen Bezirk meine frühesten Entzückungen erwachten, Heil dir!

Es sind fünfzig Jahre her; ich stand damals in meinem einundzwanzigsten Lebensjahre. Meine Eltern bestimmten mich für die Diplomatie und schickten mich nach diesem „Athen Deutschlands“, um die deutsche Sprache zu erlernen. Ich hatte schon vor mehreren Jahren während eines Aufenthaltes in Paris die französische Sprache studirt. In Weimar kam die Reihe an das Deutsche. Auch dort war ich so fleißig, daß ich in wenigen Monaten deutsch lesen, schreiben und mich ohne Anstrengung unterhalten konnte. Auf diese Weise vorbereitet, suchte ich Verbindungen und wurde bald in das Haus des Herrn von Goethe eingeführt. Als ich mich diesem großen Manne zuerst vorstellte, verrieth ich zwar im Aeußern keine Aufregung, muß aber doch gestehen, daß ich innerlich zagte, denn wer war ich, daß ich nicht hätte befürchten müssen, mich dem größten Denker und Dichter des Jahrhunderts gegenüber ganz unwürdig zu zeigen?! Aber so höflich und einfach war sein Wesen, daß ich mich sofort ebenso ungezwungen fühlte, wie er selbst. Obgleich er von einfach bürgerlicher Abstammung war, war sein Erscheinen doch aristokratisch; der Adel des Genius thronte auf seiner erhabenen Stirn. Seine Haltung war etwas gebeugt, seine Gestalt von mittlerer Größe und Stärke. Seine classischen Züge waren von römischem Typus, und seine geistreichen, dunkeln Augen schienen, wie man heute sagen würde, zwei Telegraphen zu sein, die mit Blitzesschnelle die dem Gehirn entspringenden Gedanken mittheilten. Das Haar fiel ihm nur noch in spärlichen Locken vom Scheitel herab. Sonst zeichnete sich sein Benehmen keineswegs durch jenes excentrische Wesen aus, das sich bei Männern von Genie so häufig findet. Es wurde deutsch gesprochen, und er wählte mit vielem Tact mancherlei meinem Alter angemessene Gegenstände: Studium, Jagd, Vergnügungen. Er schien sich zu freuen, daß ich in der kurzen Zeit so große Fortschritte in der deutschen Sprache gemacht hatte, und der große Gelehrte nahm regen Antheil an dem der Wissenschaft Beflissenen. So oft ich ihn in seinem Studirzimmer besuchte, prüfte er mich regelmäßig und sprach sich oft über meine Fortschritte lobend aus. Er wußte in der Unterhaltung mit vortrefflichem Tact zu meinem so tief unter ihm liegenden Niveau herabzusteigen und mich immer in meinem Fahrwasser zu lassen. Da er hörte, daß ich einige Jahre auf der Universität Paris zugebracht, erkundigte er sich genau nach der dortigen Unterrichtsmethode, und ich fand an ihm einen vorurtheilsfreien und theilnehmenden Zuhörer. Man hat behauptet, daß, wenn Bewohner des Festlandes nach England kommen, sie den Continent zu Hause lassen, daß aber reisende Engländer ihr Land mit sich nehmen und die Gebräuche ihrer Heimath überall einzuführen versuchen, wohin sie auch kommen. So kam es mir seltsam vor, daß der Dichter der mir gewordenen freundlichen Aufnahme ungeachtet nicht Miene machte, mir beim Abschied die Hand zu reichen, sondern mich höflich bis an die Thür seiner Studirstube begleitete, indem er die Hoffnung aussprach, mich in seinen Abendgesellschaften zu sehen, eine Erlaubniß, von der ich häufig Gebrauch machte.

Sein Familienkreis bestand aus seinem Sohne, seiner Schwiegertochter und zwei Enkeln. Sein Sohn gab keine Hoffnung, das Sprüchwort „tel père, tel fils“ zu bewähren. Ganz anders stand es in dieser Beziehung mit dem älteren von seinen Enkeln, welcher allgemein für einen sehr hoffnungsvollen Knaben gehalten wurde. Seine Schwiegertochter Ottilie von Goethe, geborene von Pogwisch (so unterschrieb sie sich in meinem Album unter einem Gedichte) war sehr beliebt, besonders unter den Engländern. Sie war hübsch gewesen, aber da sie beim Reiten abgeworfen und von ihrem Pferde eine beträchtliche Strecke der Straße geschleift worden, war sie zeitlebens schrecklich entstellt. Die Liebenswürdigkeit ihres Wesens glich jedoch diese Folgen des Unfalls aus; sie machte die Honneurs des Goethe’schen Hauses auf das Vollkommenste.

Der Reiz der Weimarischen Gesellschaft war für mich unwiderstehlich, und ich gestehe, daß das Studium andern Beschäftigungen und Zerstreuungen untergeordnet wurde, – hatte ich ja doch das erste Ziel meines Aufenthalts in Weimar bereits erreicht. Am 12. März 1827 fing ich ein Tagebuch zu führen an. Ich bedauere, daß ich es nicht einige Monate früher begonnen habe, weil gerade diese voll der interessantesten Vorfälle waren. Ich werde indeß versuchen, im Laufe dieser Erzählung wenigstens einiges auch aus jener ersten Zeit meines Aufenthaltes an der Ilm anzuführen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_239.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)