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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

wir aber sind auf heute Abend zusammenberufen, um über einen Antrag Courbet’s zu rathschlagen, der mit seiner Demission droht, wenn man nicht die Absetzung Gottes dekretirte. Ich meinerseits werde gegen den Antrag stimmen. Gott genirt mich nicht. Nur Christus mag ich nicht leiden, so wenig wie alle Scheinberühmtheiten.‘ Vallès, der niemals gutherzig gewesen, schlug mir meine Bitte ab. Ich fragte dann noch: ‚Wie soll das alles enden?‘ ‚Oh, auf die einfachste Weise von der Welt‘, entgegnete er. ‚Cluseret oder ein anderer verkauft den Versaillern ein Wallthor, und eines schönen Morgens liest man uns in unseren Betten auf – ein hübscher Blumenstrauß für Cayenne! Ich jedoch hoffe zur rechten Zeit benachrichtigt zu werden; mein Koffer ist gepackt; ich mache mich aus dem Staube nach der Schweiz oder Belgien. Binnen sechs Monaten giebt es in Frankreich einen Regierungswechsel, der eine Amnestie mit sich bringt. Dann kehre ich zurück und werde, Dank meiner Popularität, Deputirter. Als solcher nehme ich Platz auf den Bänken der Opposition, d. h. der gemäßigten[WS 1] Opposition, und meiner Treu, es ist ja alles möglich, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht Minister werden sollte. Ernest Picard ist’s ja auch geworden.‘“




„Einen Diktator müssen wir haben. Wir brauchen die Diktatur,“ rief Rochefort in seinem „Mot d’ordre“ aus, und wahrscheinlich fühlte dieser Schnurrant mit der Feder in sich selber das Zeug zu einem richtigen Diktator. Die ins Schranken- und Sinnlose überspannte Demokratie ist auch wirklich allzeit und überall in eine Diktatur ausgelaufen. Wenn die Menschen merken, daß ihnen mit dem Aberglauben an den souveränen Unverstand der Mehrheit nicht geholfen sei, so werfen sie sich wieder dem Aberglauben an den souveränen Verstand der Minderheit in die Arme, so leidenschaftlich, daß sie die Minderheit schließlich auf eine Persönlichkeit einschränken und nur von einem einzelnen Menschen erwarten, was die ganze Menschenmasse nicht zu leisten vermochte. Natürlich werden sie auch wieder betrogen. Denn von der Täuschung zur Enttäuschung und von dieser wieder zu jener zu taumeln, das ist das Loos der Menschheit.

In der Kommune fand jedoch die Forderung Rochefort’s keinen Anklang. Die Herren vom Stadthause hielten sich für viel zu wichtig, als daß sie irgendwem die Diktatur gegönnt hätten. Sie amteten also fort, hatten aber unter sich fortwährend mehr oder minder heftige Schismen auszugleichen. Auch mußte ja die Kommune das thatsächlich fortbestehende, aus dem Hôtel de Ville in ein Haus der Rue de l’Entrepot übergesiedelte Centralkomité mitregieren lassen.

Wenn aber die einköpfige Diktatur verwerflich, wie war es mit einer vielköpfigen? Im Evangelio Sankti Jakobi vom dreimalheiligen Jahr 1793 steht ja zu lesen, daß so eine Diktatur, genannt Comité du salut public oder Wohlfahrtsausschuß, Frankreich und die Republik gerettet habe. Also fahren wir getrost fort in unserer Affenpolitik und machen wir ebenfalls einen Wohlfahrtsausschuß, auf daß Frankreich und die Kommune gerettet werden. Der Bürger Miot stellt den bezüglichen Antrag, und derselbe geht durch mit 34 gegen 28 Stimmen. Darauf am 1. Mai Wahl des Ausschusses durch die 34 Bejaher der Frage. Resultat: die Bürger Arnaud, Meillet, Ranvier, Pyat, Gérardin sind Wohlfahrtsausschüssler. Diese Fünfeinigkeit ist aber nicht von Dauer. Nach dem 9. Mai, von wo ab – Fort Issy war verloren – der ganze Handel schief, sehr schief zu gehen anfing, wird ein neuer Wohlfahrtsausschuß bestellt – aus den Bürgern Arnaud, Billioray, Eudes, Gambon und Ranvier. Allein das Ding ist überhaupt nicht recht lebensfähig. Eine starke Minderheit, worunter Beslay, Clément, Jourde, Vermorel, protestirt von vornherein gegen die ganze Wohlfahrtsausschüsselei, als der Einheit und dem Zwecke der Kommune zuwider. Die wirkliche Macht, soweit solche noch einheitlich vorhanden, geht nach dem 9. Mai auf den Kriegsdelegirten Delescluze über. Mit der Oberbefehlshaberschaft über die sämmtlichen Streitkräfte wird der Pole Dombrowsky betraut, an welchen alsbald zwei Landsleute, zwei[WS 1] jener „edlen Polen aus der Polakei“, wie Heine sie besungen[WS 1], Byszynsky und Wolowsky, sich heranmachen, um ihn mit Versailles in Beziehung zu setzen, d. h. zum Verrath zu verlocken, was aber nicht gelingt. Dombrowsky hält fest an der übernommenen Verpflichtung. Im übrigen spielt von jetzt an so ziemlich jeder Kommunard in Paris den Diktator auf eigene Faust, soweit eben seine Faust reicht. Die Fäuste von Gesellen wie Rigault und Ferré reichen leider weit, viel zu weit. …

Am 12. Mai gab der Wohlfahrtsausschuß in einer Proklamation den Nothschrei von sich, daß die „Reaktion daran verzweifelt, Paris mittels Waffengewalt zu besiegen“ und darum darauf ausginge, die Kräfte der Rothen „mittels Korruption zu zerstören“. Dann noch bestimmter: „Ihr (der Reaktion) mit vollen Händen ausgestreutes Gold hat bei uns käufliche Gewissen gefunden.“ Ja wohl! Selbst der schaugespielte Fanatismus eines Billioray und Mortier von der Kommune soll der gelben Beredsamkeit des versailler Goldes nicht widerstanden haben. Indessen wurden alle Anschläge der Verräther, dieses oder jenes Thor den Blauen zu öffnen, vereitelt. Das Unheil wollte und mußte seinen Verlauf haben.

Mit dem Anfang des Maimonds kam es in rascheres Rollen und Stürzen. Die Mißachtung der Freiheit der Personen und der Sicherheit des Eigenthums nahm von Tag zu Tag größere Verhältnisse an. Die Razzias bei mißliebigen reichen Leuten, die Plünderung von Kirchen und Privathäusern, die Verhaftungen „Verdächtiger“, die Jagd auf „Refraktäre“, d. h. auf Leute, welche sich dem Zwangsdienste in der Bürgerwehr entziehen wollten, das alles mehrte sich in erschreckendem Maße und nahm immer entschiedener den Charakter rohrother Brutalität an. Am 14.  Mai ließ der Wohlfahrtsausschuß der Kommune das Dekret ausgehen, daß jeder und jede fortwährend ihre gehörig ausgefertigte und visirte „Bürgerkarte“ bei sich tragen solle. Wer nicht im Besitze einer solchen betroffen würde, sollte ohne weiteres eingethürmt werden. Auch damit hat sich der rothe Schrecken von 1871 wiederum nur als der Affe des rothen Schreckens von 1793 erwiesen. Doch muß man zugestehen, daß die Terroristen von 1871 in ihrem weiteren Vorschreiten etwelche Originalität entwickelten. In der Verfeinerung der Teufelei, wie auch im Ungeheuerlichen trugen sie es sogar über ihre Vorgänger und Vorbilder davon. Die Machenschaft mit den „Geiseln“ einerseits, der Hunnengedanke, Paris zu verbrennen, andererseits geben hierfür Zeugniß. Aber nein, auch dieser Gedanke war nicht neu. Die Zerstörung von Lyon durch die alten Jakobiner konnte die neuen zur Zerstörung von Paris reizen, und hat uns nicht Frau Dudevant (Georges Sand) in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß, als sie eines Spätabends zu Anfang der vierziger Jahre mit ihrem Freunde Michel de Bourges den Quai der Tuilerien hinabgegangen, der genannte Radikale mit seinem Stocke gegen die Quadern des Palastes geschlagen und ausgerufen habe, dieses Schloß und alle die Paläste und Monumente in Paris müßten zerstört werden, bevor eine neue Zeit anbrechen könnte?

Die düstere Wahrsagung ging in Erfüllung. Und was für ein „Neuzeitliches“ ist dann gekommen? Die Republik des Belagerungszustandes, die Republik, welche sich vor dem eigenen Namen fürchtete ….

Wenn man, was freilich nicht leicht ist, kaltblütig den Gang der Tragödie des rothen Quartals betrachtet, so drängt sich einem der Gedanke auf, die vortretenden Rollenträger des Stückes müßten vom Verfolgungswahnsinn ergriffen worden sein. Vom thätigen, wohlverstanden! nicht vom leidenden. Man spürt überall den Narren, aber den blutdürstigen Narren, welcher Methode in seinen Wahnwitz zu bringen weiß und folgerichtig ras’t.

Daß aber die jakobinische Verfolgungswuth von 1871 in erster Linie gegen die Priester sich kehrte, ist sehr begreiflich. Was hatten die Pfaffen nicht alles an Frankreich gesündigt! Sie, die jeder Scheusäligkeit des Despotismus ihren Segen gegeben, jedem an dem französischen Volke durch das Königthum verübten Frevel ihr Tedeum gesungen und im hellen Lichte des 19. Jahrhunderts ihr schandbares Verdummungs- und Verdunkelungsgeschäft mit mehr als mittelalterlicher Schamlosigkeit getrieben hatten. Sie, die sich unter die eifrigsten Bekenner und Verkünder der größten Lüge, welche jemals gelogen worden, der Papstlüge, eingereiht und das Christenthum in Frankreich zu einem der rohesten und abgeschmacktesten Götzendienste gemacht haben, womit irgendwann und irgendwo plumpe Gaukler die stupide Menge äfften. Extrem ruft ja das Extrem. Zu allen Zeiten und überall war es so. Es ist kein bloßer Zufall, es

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_235.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)