Seite:Die Gartenlaube (1876) 229.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Eine abtrünnige Mormonin.

Ann Eliza Young.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Die sociale Bevorzugung der Frau im amerikanischen Freistaate ist eine bekannte Thatsache. Auch ist wohl nirgends das Weib zur Entgegennahme aller Huldigungen so historisch berechtigt, wie auf dem Boden der neuen Welt. War es doch eine Frau, jene trotz ihrer Irrthümer bewundernswerthe castilische Isabella, welche die Gleichgültigkeit der spanischen Granden gegen die Entdeckungsprojecte des Genuesen durch das stolze Wort zu entwaffnen wußte: „Ich verpfände meine Juwelen, um die Mittel zu schaffen.“ So bahnte ein muthiger Frauengeist den Meerespfad zum neuen Erdtheil. Der Amerikaner erfüllt demnach, wenn er das Weib zum Idol seines Landes erhebt, unbewußt nur eine Schuld culturhistorischer Dankbarkeit.

Doch in diesem an Contrasten reichen Lande giebt es auch eine Gemeinschaft, die das Weib seiner heiligsten Rechte beraubt, und die gleich dem kranken Manne Europas die Polygamie gesetzlich und dogmatisch heilig spricht. Die auch in Deutschland genugsam bekannten Mormonen oder, wie sie sich selbst mit Vorliebe nennen, „die Heiligen der jüngsten Tage“, haben bis vor wenigen Jahren in ihrem Territorium Utah am großen Salzsee fast isolirt gelebt. Der Salzsee der neuen Heiligen schien die Eigenschaft jenes urheiligen mythischen Salzes geerbt zu haben, das eine redselige Frauenzunge zu versteinern vermochte. Denn – so seltsam es klingen mag – man hörte in diesem Lande, dessen wirksamste Schutzheiligen Oeffentlichkeit und freie Presse sind, nie von der rebellischen Auflehnung einer Mormonin gegen das schmachvolle Institut der Vielweiberei. Doch die jüngste Zeit hat dem Mormonenthum neben mancher anderen Heimsuchung auch seine erste gefährliche Abtrünnige gebracht, die keine

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_229.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)