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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Karten, Domino oder Schach spielenden Gästen mit imponirender Sicherheit und Schnelligkeit ihres Amtes walten. So ein richtiger Kellner in seinem tadellosen schwarzen Fracke, mit seiner immer ballfähigen Leibwäsche, seinem Feldherrenblicke, seinem staunenswerthen Gedächtnisse, seiner akrobatischen Gewandtheit, seinem durch nichts zu erschütternden Gleichmuthe, seiner Geschwindigkeit, seiner Unterwürfigkeit, seiner meist erstaunlichen Geschicklichkeit im Billardspiele, seiner genauen Kenntniß aller Spielgesetze, bei deren wirklicher oder vermeintlicher Verletzung er als Autorität angerufen wird, verdient als ein Stück Universalgenie respectirt zu werden.

Betrittst Du zum ersten Male sein Reich, so wird er Dich zwar höflich, aber ohne weitere Zeichen rein menschlicher Theilnahme anhören, wenn Du ihm Dein Anliegen vorbringst; das zweite Mal grüßt er Dich freundlich, wenn auch noch mit einer gewissen Zurückhaltung, das dritte Mal aber betrachtet er Dich als Stammgast. Kaum hast Du die Schwelle überschritten, so ruft er Dir laut seinen Gruß zu, indem er diesem auch Deinen Namen zufügt, den er natürlich schon kennt, damit Du nicht im Zweifel seist, daß der Gruß Dir gelte. Du hast Deinen Platz noch nicht eingenommen, und schon siehst Du Deinen Kaffee und „Deine“ Zeitungen vor Dir liegen, und nun hast Du nie mehr etwas zu bestellen – ihr kennt euch; er liest Dir den Wunsch von den Augen ab. Eine ganz selbstverständliche Sache ist es, daß er Dich taxfrei in den Adelstand erhebt, so oft er Dich anspricht.

Jean, Karl oder Julius – er capricirt sich nicht auf einen bestimmten Namen – ist im Stande, acht bis zehn Kaffeegeschirre auf einmal durch die Menge zu balanciren, dabei einem Ankömmling Posten auszurichten, Aufträge entgegenzunehmen, seinen Untergebenen Befehle zu ertheilen, mit einem Blicke die Gäste und ihre an den Wänden hängenden Hüte und Ueberröcke zu controlliren, denn er wird für Alles verantwortlich gemacht, und die Rockdiebe gehören in Wien nicht mehr zu den Seltenheiten. Hat er seine Last abgesetzt, dann nimmt er von Gästen, die nach ihm gerufen oder geklopft haben, das Geld entgegen, bedankt sich für das nie ausbleibende Trinkgeld und langt aus allen Taschen Abendblätter hervor, die er vertheilt. Hier bringt er einem Sieger im Billardspiele seine feinsten Cigarren oder Cigarretten, die der überwundene Gegner zu bezahlen hat; dort spannt er ein grünes Tuch über den Spieltisch, legt Karten, Kreidestifte, Täfelchen und ein Blechtäßchen für den „Juden“ i. e. „pagat ultimo“ hin; hier wieder bezahlt er für einen Stammgast, der kein Geld bei sich hat, die Spielschulden; dort verlangt Einer Karten für die Oper von ihm, ein Anderer solche für’s Karl-Theater – er hat Alles.

Bald stellt er einen improvisirten Schreibtisch her für einen fliegenden Brief- oder Artikelschreiber; bald schwebt er durch die Säle und sucht einen begehrten Partner zu den Karten, zum Schach oder zum Billard, und so geht es vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein fort, und nie wird man ihm die leiseste Spur einer Verdrossenheit oder der Ermüdung anmerken. Ist dann das Jahr um, so giebt ihm gern jeder Gast für den niedlichen Kalender, den er als Neujahrsangebinde seinen Clienten verehrt, den üblichen Gulden.

Ueber der imponirenden Gestalt des Kellners dürfen wir der reizenden Cassirerin nicht vergessen, die in ihrer „Kredenz“ voll Hoheit thront, als säße sie in einem Heiligenschreine. Sie nimmt kein Geld entgegen und giebt nur Obacht auf das, was die Kellner an die Gäste verabfolgen. Das ist nicht schwer, weil es doch immer dieselbe Geschichte ist; weiter hat sie auch die Huldigungen zahlreicher Schwärmer zu quittiren, doch auch das macht ihr nicht viel Kopfzerbrechen – es ist ebenfalls immer dieselbe Geschichte.

Bisher habe ich versucht, die Physiognomie der Kaffeehäuser im Allgemeinen zu schildern, jedes hat aber noch für sich seinen besonderen charakteristischen Zug, der ihm von seinem Stammpublicum aufgedrückt wird. Fast jeder Zweig des Kaufmannsstandes hat sein besonderes Kaffeehaus; es giebt Kaffeehäuser, die veritable Börsen bilden. Die Edelsteinhändler sowohl wie die Fruchthändler gehen in ihr Kaffeehaus, wie zu ihrer Börse; die officielle Wiener Waarenbörse führte vor ihrer Vereinigung mit der Effectenbörse nur ein Scheinleben, weil sie gegen die Concurrenz einiger Kaffeehäuser nicht aufzukommen vermochte; ja es giebt auch Kaffeehäuser, in welchen „Schlüsse in Effecten“ genau so ernst genommen werden, als wären sie auf der Effectenbörse gemacht worden. Geldverleiher, Agenten für Waaren, Gründe und Häuser, Schauspieler, Journalisten, Maler, Musiker, Künstler aller Art haben ihre bestimmten Kaffeehäuser, wo sie zu jeder Zeit ihre Geschäftsfreunde und Collegen zu finden wissen, und ganz natürlich haben auch die verschiedenen Nationalitäten und Landsmannschaften je ihr bevorzugtes Stammkaffeehaus.

Wer das Publicum der Kaffeehäuser zu schildern unternehmen wollte, dem würde unversehens eine förmliche culturgeschichtliche Studie aus Wiens Gegenwart unter der Feder entstehen. Die Kaffeehäuser sind sich so ähnlich, wie die Rohre der Kaleidoskope; sieht man in verschiedene Kaffeehäuser oder verschiedene Rohre hinein, so wird man zwar ganz ähnliche, nie aber ganz gleiche Bilder sehen. – Sollen wir zuletzt ein Gesammturtheil über das Wiener Kaffeehausleben abgeben, so werden wir es gern in ein Sprüchwort zusammenfassen, das mit besonderer Vorliebe von jungen englischen Damen angewendet wird: „It’s naughty, but it’s nice“ (es ist garstig, aber es ist nett). Nicht leicht wird sich in Wien Jemand der eigenthümlichen Anziehungskraft des immer bewegten, bunten und immer, selbst beim Müßiggang, geschäftigen und fröhlichen Lebens und Treibens in den Kaffeehäusern erwehren können. Die grimmigsten Feinde der Kaffeehäuser sind die Frauen, vielleicht weil sie sich, mit geringen Ausnahmen, noch keinen Platz in denselben erobert haben, vielleicht auch aus anderen und sehr berechtigten Gründen. Was die Herren der Schöpfung betrifft, so kommt es allerdings auch vor, daß Einer oder der Andere über das Kaffeehausleben seine sehr gewichtigen Bedenken hegt, allein es passirt dennoch wohl kaum, daß einer von diesen strengen Moralisten nicht doch sein Stammkaffeehaus hätte.

Balduin Groller.




Blätter und Blüthen.


Eines „Kriegsheilkünstlers“ Ehrentag. (Mit Portrait S. 220.) Wenn ein geehrter und geliebter Greis mit strahlendem Auge auf Jahre zurückblickt, die er die glücklichsten seines Lebens nennt, so wird man an einem Tage, für welchen eine Staffel seiner Laufbahn mit Jubelkränzen geschmückt wird, ihm zu Liebe gern dem Winke seines freudigen Rückblickes folgen und ihn zuerst dort begrüßen, wo er am glücklichsten war.

So gehen wir denn nach Freiburg im Breisgau und sehen uns in den mittleren vierziger Jahren dort um. Damals wirkte im blühendsten Mannesalter, von seinem achtunddreißigsten bis vierundvierzigsten Lebensjahre als Professor der Chirurgie an der Universität Georg Friedrich Ludwig Stromeyer, dessen Namen bereits ein hoher akademischer Ruf auszeichnete. Seine selbst in England berühmt gewordene Ausführung des Sehnenschnitts, sowie die wissenschaftlichen, in der von ihm in seiner Vaterstadt Hannover begründeten orthopädischen Anstalt gewonnenen Resultate, die er in gediegenen Schriften niederlegte, hatten ihn zu einem gesuchten Manne in der akademischen Welt erhoben. Am meisten hatten dazu geholfen seine 1838 erschienenen „Beiträge zur operativen Orthopädik oder Erfahrungen über die subcutane Durchschneidung der Muskeln und deren Sehnen“, eine Schrift, die durch die darin gegebene Anregung zur Schieloperation die weittragendste Bedeutung gewonnen hat. Und in Freiburg war es auch, wo er für dieses Werk einen Ehrenpreis der Académie des sciences zu Paris empfing. Erhebender Erfolge froh und rüstig wirkend im Verein mit nach- und mitstrebenden Schülern und Collegen, war er eine Zierde der Freiburger Hochschule.

Es thut wohl, sagen zu können, daß der Weg zu diesem Glück unserm Jubilar vom Schicksal nicht zu schwer gemacht worden war. Er, der seit dem 6. März im dreiundsiebenzigsten Jahre steht und dennoch aufgerichteten weißen Hauptes geistig und körperlich wohlbehalten der Zerbröckelung des Alters trotzt, war als so schwächliches Kind zur Welt gekommen, daß die Heranerziehung desselben zu einem strammen Jungen als ein Meisterstück seines Vaters gepriesen wurde. Dieser Vater war ebenfalls ein ausgezeichneter Chirurg und Mitglied des Comités für das hannöverische Militär-Medicinalwesen; er erkannte schon in seinem Knaben den künftigen Wundheilkünstler und ließ ihn noch in Hannover am Unterricht in der Anatomie theilnehmen und mehrere Jahre die Chirurgische Schule besuchen, ehe er ihn nach Göttingen auf die Universität schickte. Promovirt hat unser Stromeyer in Berlin am 6. April 1826, und das fünfzigjährige Doctorjubiläum ist das Fest, zu dessen Ehren die „Gartenlaube“ durch das Bildniß des Gefeierten und diese Worte das Ihrige beitragen will.

Nach längeren Studienreisen kehrte er in seine Vaterstadt zurück und begründete daselbst (1829) die orthopädische Anstalt, die er von da an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_222.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)