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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

und unwillkürlichen Erwägen der möglichen Gedanken unserer uns zuschauenden Mitmenschen ergreift, nichts Anderes ist der Mittelpunkt der für so geheimnißvoll ausgegebenen Erscheinung. Und wenn nun für eine Person die ganze Welt sich in einer einzigen andern zusammenfaßt und personificirt, so ist es deren Gegenwart und die mit ihr wachgerufene Frage, ob wir auch ihre Billigung finden, die uns bis zur stärksten Rothgluth einheizt. Darum erglühen wir am tiefsten vor denen, die wir am höchsten lieben oder verehren, und daher kommt es, daß die Liebeserklärungen meist unter so lebhaftem Farbebekennen vor sich gehen, und daß der übermüthige, aber von Herzen gute Junge über denselben Streich, mit dem er sich eben noch gegen Seinesgleichen rühmte, vor seinem Vater oder Erzieher tief erröthet.

Darwin, dessen tiefdurchdachte Auffassung uns hier zur allgemeinen Richtschnur dient, hat den Nachweis erbracht, daß das Schamgefühl sich bei allen Menschenracen durch das Erröthen und seine Begleiterscheinungen äußert, daß selbst den Negern, Kaffern und andern dunkelhäutigen Menschen, bei denen man wenig davon merken kann, bei gegebener Veranlassung das Blut in die Wangen schießt, ebenso wie eine wohlerzogene Europäerin auch im Dunkeln erröthet, obwohl in beiden Fällen der vorgebliche Zweck des verrätherischen Blutstroms verloren geht. Bei solchen Negern, die Wundnarben, welche in der Regel lange hell bleiben, auf den Wangen haben, kann man die Spur des Blutstroms, der sonst nur ein wenig Nachdunkelung hervorbringt, an ihrem Rothwerden leicht erkennen. Bei hellfarbigen Racen wird das Erröthen dadurch gesteigert, daß es sich leichter verräth, und der Wunsch, seine innere Erregung zu verbergen, nur die Verwirrung und ihre Wappenfarbe zu erhöhen geeignet ist, eine Steigerung, die nicht so leicht eintreten wird bei Personen, deren von Natur dunklere Gesichtsfarbe eine leichte Erregung maskiren kann. Im Uebrigen hängt die Empfindlichkeit des Schamgefühls natürlich von dem Grade der angeborenen oder anerzogenen Feinfühligkeit ab, und während die eine Person nur ganz leicht rosenfarben angehaucht erscheint, sinkt die Andere bei derselben Veranlassung bis über die Ohren in Päoniengluth; während die meisten Menschen nur bis zum Halse, viele bis zur Brust erröthen, spricht man von Anderen, die vom Wirbel bis zur Zehe roth werden. Aerzte haben einzelne Personen angetroffen, die in diesem Punkte so empfindlich waren, daß die Röthe sich auf jeden Körpertheil verbreitete, den sie behufs der Untersuchung entblößen mußten. Wir dürfen wohl schließen, daß die übliche Beschränkung der Röthe auf die von der Mode unverhüllt gezeigten Theile der menschlichen Büste eben durch den Umstand, daß sie die innere Erregung allein nach außen spiegeln können, hervorgebracht worden ist, wie sich das Brennen in unseren Wangen durch den Gedanken, es zur Schau zu tragen, vermehrt und am ersten nachläßt, wenn das Antlitz hinter dem Fächer, den Händen oder einem Taschentuche Schutz finden kann.

Denen, welche sich scheuen, eine Rose zu zerpflücken, um ihren Bau kennen zu lernen, wird es wohl sehr schamlos erscheinen, der körperlichen Natur und Entstehung einer so poesievollen Erscheinung, wie es dieser Rosenschmuck der aufblühenden Jugend ist, nachzuspüren. Wir müßten eine solche Scheu indessen, wo sie hervorträte, in das Gebiet der falschen Scham oder Prüderie verweisen, welches freilich ungleich ausgedehnter ist, als das der wahren und berechtigten. Wenn wir zuerst Umschau halten im Thierreiche, so findet sich, daß das Vermögen, die Farbe zu wechseln, kein Vorzug des Menschen vor den Thieren ist; wenn es den Säugethieren beinahe fehlt, ist es in desto größerer Ausdehnung den riesenhaften Seepolypen oder Kraken, vielen Fischen und in besonders ausgezeichnetem Grade dem Chamäleon verliehen. Bei den meisten dieser Thiere scheint das Farbenspiel der Haut sowohl dem Ausdrucke der Stimmung wie auch als eine Kriegslist zu dienen, um dadurch, daß sie die Farbe ihrer Umgebung annehmen, den Nachstellungen ihrer Feinde besser entgehen zu können. Wie sehr der Eindruck der Umgebung die Farbe der Fische beeinflußt, hat G. Pouchet kürzlich nachgewiesen, indem er zeigte, daß Fische, die man blendet, unter allen Umständen eine dunklere Färbung annehmen, als sie vorher zeigten, als wollten sie die Trauerfarbe, in welche die Natur sich für sie kleidet, wiederspiegeln. Das Farbenspiel der sterbenden Meerbarbe war ein Schaustück, welches einer wohlbesetzten römischen Schwelgertafel nicht fehlen durfte. Wenn es sich in diesen Fällen meistens um die Füllung besonderer verästelter Hautgefäße mit einem eigenthümlichen flüssigen Farbstoffe, der beim Zusammenziehen derselben zurücktritt, handelt, so bringt bei den Säugethieren das Blut ähnliche Erscheinungen hervor, indem es die feinen Haargefäße (Capillaren) der Oberhaut beim Erröthen anschwellt, beim Erblassen verläßt. An dem haarlosen Gesichte des Affen läßt sich leicht erkennen, daß es in der Leidenschaft sich ebensowohl röthet, wie das eines zornigen Menschen, aber daß es niemals von dem edeln Roth der Scham besucht wird, ist bei der bekannten Schamlosigkeit dieser Bestien nur zu natürlich.

Allein weshalb sollten wir sie tadeln für einen Mangel, der uns an unseren eigenen Kindern so über alle Beschreibung hold und reizend erscheint, wegen jener Unbefangenheit, die uns den Beweis liefert, daß das Schamgefühl hauptsächlich nur ein Erzeugniß der Erziehung des Menschengeschlechts, und zwar sowohl der persönlichen, wie der allgemeinen im Laufe der Jahrtausende ist. Wer hätte nicht in seinem Leben die Unbefangenheit und Unschuld kleiner Kinder bewundert und beneidet, wie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Jedem unverwandt in’s Auge blicken und sich auch in der allervornehmsten Gesellschaft niemals wohler fühlen, als wenn sie die letzte Hülle von sich geworfen. Wir erhalten hier den vollsten Beweis, daß das Schamgefühl nichts unmittelbar in der Natur Gegebenes ist, und die schönste Rechtfertigung, welche der Dichter der gedankenreichen biblischen Erkenntnißmythe irgend verlangen kann. Erst mit dem zweiten Lebensjahre etwa, nachdem die Erziehung ihr Werk begonnen und die Mahnung „Was sollen die Menschen von Dir denken?“ unaufhörlich vor dem Ohre des Kindes wiederhallt – und, setzen wir hinzu, nicht wohl entbehrt werden kann –, entwickelt sich auch die Fähigkeit des Erröthens in einem oft so bedenklichen Grade, daß spätere Selbsterziehung ihre Noth hat das Uebermaß, die allzu peinliche, auf Kleinlichkeiten ausgedehnte Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen wieder einzuschränken. Im Uebrigen kann ein äußerstes Zartgefühl in Bezug auf den Nächsten, wie alle anderen Gemüthsanlagen, leicht vererbt werden, und ein solches „Erbtheil des Blutes“ mag dann viel schwerer, als eine „alberne Angewohnheit“, auf ein erträgliches Maß zurückführbar sein. In solchen Fällen hat die Erziehung die ernste Pflicht, zu mäßigen, da ein Uebermaß auch hier sehr lästig und hinderlich werden kann. Dem starken Geschlechte gelingt es in der Regel in einem viel höhern Grade als dem zarteren, sich über das Urtheil seines lieben Nächsten hinwegzusetzen und nicht mehr über jeden Hühnerdreck zu erröthen. Dieses Beherrschenkönnen seiner innersten Empfindungen ist nicht immer eine Tugend, aber stets ein Gewinn für’s praktische Leben, wenn wir auch jene Stufe, die über nichts erröthet, in den meisten Fällen als einen traurigen Gewinn bezeichnen müßten. Der Volksmund nennt solche Menschen „abgebrüht“, als wäre die Schamröthe eine Anstrichfarbe, die sich ein- für allemal durch kochendes Wasser entfernen läßt. Auch hier ist die Mitte das Richtige, aber ein Zuviel besser als ein Zuwenig. Nicht nur von der Wange des Jünglings fordern wir mit Anakreon: „Und sieh zu, daß sie das edle – Roth der Scham erkennen lasse!“ auch einem Männerantlitze steht eine wohlangebrachte Gesichtsröthe zu Zeiten vorzüglich.

In dem erwähnten Seelenzustande, der mitunter einer Geistesabwesenheit gleicht, haben wir offenbar den eigentlichen Mittelpunkt der ganzen Erscheinung zu suchen. Geistige Vorgänge beeinflussen nun bis zu einem solchen Grade die Thätigkeit des Herzens, daß man den Leidenschaften, wie der Liebe und dem Hasse geradezu diesen Hohlmuskel als Wohnung zugewiesen hat. Der Muth und die Sehnsucht schwellen das Herz; Angst und Erwartung lassen es heftiger pochen; Furcht preßt es zusammen, und Entsetzen bringt das Blut zum Starren. Da nun die das Herz, den Verdauungsapparat und andere innere Organe bewegende Nervenkraft nicht dem Gehirne und seiner Rückenmarksfortsetzung entstammt, vielmehr von besonderen Kraftmagazinen des sogenannten sympathischen Nervengeflechtes ausgeht, so können wir den Herzschlag, die Verdauungsbewegungen etc. nicht willkürlich beeinflussen, und sie dauern auch nach einer Enthauptung, namentlich bei niederen Thieren, noch Stunden lang fort. Es besteht also hierin nur ein mittelbarer Zusammenhang, der sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_218.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)