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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

er ihn nennt, und wandte auf ihn das sarkastische Wort aus Schiller’s Wallenstein an: „Und wer ihn eine falsche Katze schilt, der hat’s mit mir zu thun.“ Gewiß mit Unrecht. Der Briefwechsel (Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Berlin 1858) zeigt eine zwar sehr complicirte, aber lautere und gegen sich treue Individualität, und seine Handlungsweise in der gefährlichen Zeit der kirchlichen Reaction in Preußen offenbart einen Charakter, der mannhaft für seine Ueberzeugungen einsteht und immer der Freiheit dient. Die Zweizüngigkeit seines theologischen Systems ist nicht die Schuld seines Charakters, sondern die Folge seiner geistigen Ausrüstung und seiner Zeit.

Unter solchen geistigen Einflüssen – Strauß durch Schleiermacher ergänzt und Schleiermacher durch Strauß corrigirt – bildete sich der jugendliche Geist seine eigene Glaubenslehre, die freilich zum Glück bis auf den heutigen Tag noch nicht abgeschlossen ist; denn die Wahrheit hat das Vorrecht, immer noch einige Geheimnisse für sich zu behalten. Als ich meine erste Stiftspredigt gehalten hatte, nahm mich der mit ihrer Beurtheilung beauftragte Repetent (Staib) auf seine Studirstube und sprach die lakonischen Worte: „Das war keine Predigt – das ist ein Programm der modernen Weltanschauung.“




Bühnen-Erinnerungen.


5. Auch etwas aus alten Theaterzeiten.


Von W. Marr.


Nichts widerstrebt einem modernen Schriftsteller so sehr, als eine Arbeit mit einem Gemeinplatze zu beginnen. Es ist das so billig, so bequem, aber es klingt in unseren Tagen für jeden feingebildeten Leser doch oft geradezu unschön. Wüßte ich daher nur, wie ich mit guter Manier den sich mir gewaltsam in die Feder drängenden Gemeinplatze: „dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“ los würde! – Aber – da steht er ja schon auf dem Papiere. – Lassen wir ihn stehen, und verzeihe ihn mir der Leser!

Er drängte sich, wie gesagt, mir auf, der Gemeinplatz, als ich unlängst im Conversationslexikon von Brockhaus (ja wohl! von Brockhaus!), Ausgabe 1866, einige Daten, die mir entfallen waren, über den Sänger Julius Cornet nachschlagen wollte. Er stand nicht darin, der größte „Masaniello“ seiner Zeit, größer noch als Nourrit in Paris, für den Auber den Part componirt hatte. Sein derzeitiger Rival Bader, weit unter Cornet stehend in allen französischen charakterisirenden Opernpartien, erfreut sich eines ziemlich ausgedehnten Raumes. Cornet, die Zierde des Hamburger Stadttheaters, später dessen Director mit Mühling zusammen, dann artistischer Director der Wiener Hofoper – die in Rede stehende Ausgabe des Conversationslexikons schweigt über ihn. Es ist nicht die Schuld des Verlegers, sondern mehr die der Redaction. Wir von der Journalistik wissen ja, „wie’s gemacht wird“, wie die Virtuosen und Reclamehelden nie blöde sind, wenn es gilt, sich vorzudrängen, wie unzählige schon bei Lebzeiten „berühmt“ werden, während die Altmeister der Kunst warten müssen, bis sie eine mitleidige Feder nach dem Tode wieder zu Ehren und der Nachwelt in’s Gedächtniß bringt, was sie bei Lebzeiten waren. Ein gesanglicher und schauspielerischer Darsteller von Partien, wie Masaniello, Zampa, Fra Diavolo, Maurer, ein Opernregisseur, wie es keinen Zweiten gab, das war Julius Cornet, der halbe Welschtiroler, denn irre ich nicht, so ist Meran seine Heimath.

Bader z. B. sang die Schlummerarie in der „Stummen von Portici“ hinreißend schön, zehnmal schöner als Cornet, allein in dem ganzen dramatischen Theile der Rolle überragte ihn Cornet bedeutend. In der Wahnsinnsscene wurde Bader geradezu komisch. Georges Brown in der „Weißen Dame“ ist nur von Roger nach Cornet erreicht worden. Es giebt aber einen pietätvollen Bruchtheil im Publicum, und diese alten Herren und alten Damen werden mir freundlich zulächeln, wenn ich den Namen Julius Cornet nenne.

Aber ich nenne ihn gerecht und füge hinzu: er war abscheulich in allen Bellinischen Opern, das gesprochene Recitativ stand ihm, wie „Manschetten unserem Kater“, und die guten Braunschweiger irrten gewaltig, wenn sie sagten: „Wenn unser Cornet mäl keine S-t-imme mehr hat, dann wird er noch ein guter Schau-s-pieler.“ Nein! die gesprochene Rede stand ihm nicht zu Gebote, aber wo er singen konnte, da sang er darstellerisch. Nicht wahr, Ihr alten Theateronkel und Theatertanten, ich habe Recht?

Als er, es war in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, in Braunschweig engagirt war, hatte er natürlich die Opernregie. Es existirten damals vier Regisseure: Cornet für die Oper; für die Tragödie, Schau- und Lustspiel Heinrich Marr, Kettel und Gaßmann. Eigentlich aber nur zwei, Cornet und Marr, denn der heißblütige Marr, der keine Arbeit scheute in seinem Berufe und in diesem oft zum Fanatiker wurde, war – Dank der Bequemlichkeit seiner Collegen – das Factotum der nicht musikalischen Regie. Anfangs standen Cornet und Marr in dem zärtlichen Verhältniß zu einander, in dem Katze und Hund zu stehen pflegen. Der etwas sehr gallige Cornet bildete sich steif und fest ein, Marr wolle die Oper unterdrücken, zumal die Casseneinnahmen in jener Zeit dem Schauspiele günstiger waren als der Oper.

Wie es aber bei allen ganzen und vollen Charakteren zu gehen pflegt, wurden die Beiden, nachdem sie sich eine Zeitlang angeknurrt hatten, die besten Freunde. Diese Freundschaft ging zuletzt so weit, daß Marr Cornet half, die Oper zu insceniren, und Cornet sich nicht nur herbeiließ, für Immermann’s Trauerspiel in Tirol das reizende Lied:

„Ein Franzose wollte jagen
Eine Gemse silbergrau“

zu componiren, sondern auch in der Tragödie selber mit agirte und das Liedchen sang. Diese seltene Freundschaft zweier künstlerischer Extreme dauerte bis zum Tode Cornet’s. Sie gab in der Theaterwelt Gelegenheit, die beiden Dioskuren, deren Verbissenheit in ihrem Berufe bekannt war, „Barbarino“ und „Malvolino“ zu nennen, und zwar nach den beiden Banditen aus „Stradella“.

Ein seelensguter Schriftsteller in Hamburg hatte den Witz gemacht, und die Getroffenen waren die Ersten, die ihn belachten. Plaudern wir uns jetzt in das Jahr – ich weiß nicht, war es 1836 oder 1837 – zurück. Die genaue Jahreszahl thut in einer Unterhaltungslectüre auch nichts zur Sache. Cornet sowohl wie Marr waren bei Hofe „mißliebig“ geworden. Warum? Sehr einfach, wenn man bedenkt, daß sich das Hofleben jener Zeit wesentlich um das Theaterleben herum concentrirte. Herzog Wilhelm von Braunschweig ist einer der redlichsten Fürsten, welche je auf dem Thron gesessen haben. Ein Charakter ohne Falsch, das Beste seines Landes erstrebend, aber durch eine unglückliche metternich’sche Erziehung scheu und mißtrauisch gemacht. Da begab sich folgender Vorfall. Der Herzog war ein großer Theaterfreund und protegirte die Frau des Capellmeisters Methfessel, die Sängerin dieses Namens.

Während er sich im Zwischenact einer Oper mit dieser auf der Bühne unterhielt, ging der Vorhang in die Höhe, und das Publicum erblickte Fürst und Sängerin in der Conversation. – Aus diesem Zufall, der eine Mücke war, machte die Chronique scandaleuse einen Elephanten. Cornet, so hieß es, habe das Aufgehen des Vorhangs absichtlich zu früh angeordnet. Doch dies war noch nicht Alles. Einige Wochen darauf erschien dieser Vorfall in einer Pariser Zeitung auf das Gehässigste und Obscönste entstellt als „Correspondance de Brunsvic“. Der Verdacht der Autorschaft fiel auf Marr, weil dieser – o Kleinstädterei! – einige Jahre zuvor in Paris gewesen war und mit dem Kammerherrn von Bitter, seinem persönlichen Freunde und Famulus des Exherzogs Karl, verkehrt hatte. Umsonst protestirte Marr gegen diese Insinuation. Der Braunschweiger Hof ließ es sich nicht nehmen, daß Cornet und Marr unter einer Decke gegen den Herzog spielten, daß Jener das zu frühe Aufgehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_202.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)