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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

abgelöst von all den äußerlichen Uebernatürlichkeiten, durch welche die Orthodoxie sie ungenießbar gemacht hatte, und gleichsam vom Himmel auf den natürlichen Boden der Erde verpflanzt. Man

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befand sich in der tiefsten Berührung mit einem Unendlichen und hatte doch nicht nöthig, auf den natürlichen Zusammenhang der Dinge, auf die Gesetzmäßigkeit der Weltordnung zu verzichten.

Wohl versicherte der Theolog, daß sein Glaube mit der Philosophie nichts zu schaffen habe; er wolle nur das fromme Gefühl belauschen, seine Aussagen aufschreiben und in einen Zusammenhang bringen, aber zum Glücke lauschte er mit dem Ohre eines Philosophen, der an den großen Aufgaben der Wissenschaft selbstständig gearbeitet hatte. Das Universum, in das hier der Mensch gestellt wird, ist die Eine ungetheilte Welt des Copernikus, in der es kein Oben und Unten, kein Hüben und Drüben, daher auch keinen außerweltlichen Gott giebt. Der Gott, der hier regiert, kennt keine Wunder und keine vereinzelten Handlungen, wird ihm ja sogar das Prädikat der Persönlichkeit abgesprochen; seine Wirksamkeit erscheint nur in der Gesammtheit des endlichen Seins und der natürlichen Ursachen, so daß nie von einer Begebenheit die Rede sein kann, die ihren Grund nicht in dem von Gott gesetzten Zusammenhange der natürlichen Ursachen und Wirkungen hätte. Aus diesem Zusammenhange sucht der Theologe auch die Erscheinung Jesu Christi natürlich zu begreifen. Dieser ist ihm kein Wesen, das vom Himmel kommt und zum Himmel fährt, das vor seiner menschlichen Geburt schon irgendwie existirt hat und auf übernatürlichem Wege zur Welt kommt, sondern ein Erzeugniß der Schöpferkraft der gottbefruchteten Menschennatur, und sein einziger Titel ist: Mensch, der seiner Idee angemessene Mensch. So ist auch die Kirche nichts anderes, als eine Gemeinschaft von Menschen, welche den gottinnigen Geist Jesu Christi durch das Wort, durch gewisse sinnbildliche Handlungen, durch die Selbstdarstellung ihrer Persönlichkeit fortzupflanzen suchen.

Wie ängstlich auch Schleiermacher bemüht war, seine Ansichten den altkirchlichen Lehren anzunähern, was ohne Gewaltsamkeiten, Künsteleien, Widersprüche nicht abging, so hat er doch für Den, welcher einige Nebel und Schleier auf die Seite schieben kann, die sämmtliche Begriffswelt der überlieferten Theologie in dem einheitlichen Geiste einer neuen Welterkenntniß radical umgestaltet, und was einem Lessing als die Aufgabe der Zukunft vor Augen geschwebt hatte, das war hier in einem großartigen Versuche angestrebt worden. Ich schied von dem Meister, dem ich oft genug um seines Schaukelsystems willen böse geworden war, doch mit innigem Danke und großem Respecte. Das Urtheil über Schleiermacher steht heute noch nicht fest. Man liebt es, seinen Namen als ominös zu betrachten, und Strauß insbesondere war in seinen Urtheilen sehr unfreundlich gegen den auf dem Wege von den „Reden“ zur „Glaubenslehre“ zum Diplomaten umgewandelten Mystagogen, wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_201.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)